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Die Möglichkeit einer ganz persönlichen Aussage
Interview mit Peter Schreier, 16. juli 2003, Schwäbisch Gmünd

Ich habe einen Meisterkurs bei Peter Schreier belegt, in einer kleinen schwäbischen Stadt östlich von Stuttgart, Schwäbisch Gmünd. Es ist Sommer und ungewöhnlich warm. Thema des Meisterkurses ist die Solopartien in Bachs Johannespassion. Wir sind 16 aktive Teilnehmer und acht von uns werden am Ende des Kurses die Solopartien singen. Peter Schreier singt die Evangelistenpartie und dirigiert die Passion. Wir machen gerade Pause, und ich habe die Ehre, mit dem Meister zu Mittag zu essen. Ich drücke auf die Aufnahmetaste, mache einen Tontest, bedanke mich ehrerbietig für die Audienz und stottere meine erste Frage in gebrochenem Deutsch. Ich interviewe den Kammersänger Peter Schreier persönlich.

Sie haben die Evangelistenpartie oft gesungen und man sagt, Sie seien der ideale Evangelist. Ist die Evangelistenpartie noch immer von großer Bedeutung für Sie?
Ja, der Evangelist steht in meinem künsterlichen Leben im Mittelpunkt. Diese Partie gibt mir die Möglichkeit einer ganz persönlichen Aussage. Das heißt: der Evangelist ist nicht nur ein Berichterstatter, sondern ein leidenschaftlicher Vertreter, der alles in der Situation miterlebt, selbstempfindet. Also, eine Art ”esspressivo”, die sich durch die gesamten Evangelistenpartie hinzieht. Die sich vom blassen Berichterzählen entfernt und absolut auch Teilnahme ist, mit großer Leidenschaft, ”con passione”. Und ich glaube, daß es auch eine Interpretation im Rahmen unserer Zeit ist - so wie sicher jede Interpretation sich im Laufe der Jahrzehnte, der Jahrhunderte ändert. Man kann nicht sagen, daß vor 50 Jahre die Dirigenten und Sänger blöd waren. Sie haben es nur anders gemacht. Und aus ihrer Zeit heraus eine Interpretation gebracht, die wir heute nicht mehr richtig verstehen, einfach weil die Zeiten sich geändert haben, die Umstände, das Ambiente, alles hat sich geändert, und somit auch die Interpretation.

Haben Sie Ihre Meinung auch geändert?
Ja, ganz klar. Wenn Sie sich eine alte Schallplatte anhören, mit Karl Erb zum Beispiel, oder wer auch immer damals gesungen hat, dann staunt man, daß das ganz anders klingt als heute. Aber das war eben der Ausdruck seiner Zeit und der ist bei uns jetzt eben anders.

Was meinen Sie zur modernen Bachinterpretation? Kommt die "moderne", sogenannte "authentische" Interpretation näher an Bach heran als die von vor 50 Jahren?
Das kann man nicht wissen. Also, wir werden nie wissen, ob und inwieweit wir uns noch in die Vorstellungen aus Bachs Zeit hineinversetzen können. Ich finde es auch nicht richtig, daß man bei den heutigen Barockensembles immer von Authentizität spricht: sowas gibt es nicht. Authentisch können wir heute nichts machen. Kein Mensch weiß, wie zu Bachs Zeiten musiziert wurde.

Ich hatte das Glück, Sie als Evangelisten und Dirigenten bei einer Aufführung der Matthäuspassion in München zu erleben. Sie dirigierten ein großes Orchester und einen großen Chor. Wir wissen, daß es zu Bachs Zeiten so große Chöre und Orchester gar nicht gab. Bevorzugen Sie dennoch einen großen Chor?
Das ist natürlich so ein Problem: Der Bach-Chor besteht aus hundert Sänger, von denen keiner auf die Teilnahme verzichten will, alle möchten singen. Um ihnen gerecht zu werden, braucht man dann auch ein großes Orchester. Das ist gewiß nicht im Sinne von Bach, aber meines Erachtens ist das nicht ganz so wichtig, weil die Hauptsache ist, was dabei herauskommt. Ist mit diesem Ensemble ein optimaler Ausdruck zu erreichen? Das ist für mich entscheidend. Nicht, daß ich nur nun im großen Stil Musik machen möchte. Ich meine auch, daß letztendlich die Aussage der Inhalt des Werkes ist.

Also, für Sie ist ein kleines oder grosses Orchester nicht ausschlaggebend?
Neh, das finde ich nicht.

Ich habe irgendwo gelesen, die Matthäuspassion sei Ihre "Lebensaufgabe". Warum die Matthäuspassion und nicht die Johannespassion?
Die Matthäuspassion ist sicherlich in manchen Passagen die tiefergehende, inhaltlich bedeutendere. Die Johannespassion ist im Wesentlichen dramatischer und manchmal ein klein wenig, ich will nicht gerade sagen oberflächlich, aber aus ganz praktischen Erwegungen dramatischer. Der Text der Johannespassion ist auch nicht so gut wie der Matthäusbericht. Ich glaube, die Matthäuspassion ist das bedeutendere Werk. Ich meine, wenn auch für den normalen Hörer die Johannespassionen interessanter ist, kleiner und verständlicher. Aber die Matthäuspassion hat auch in ihren Arien und in der ganzen Orchesterbehandlung doch das größere Format. Ich meine, in der Evangelistenpartie gibt es eigentlich keinen Interpretationsunterschied. Und die Probleme, oder die Möglichkeiten, die man in der Matthäuspassion hat, kann man auch in der Johannespassion haben.

Also kann man sagen, dass die Ausdrucksmöglichkeiten in beiden Passionen gleich sind?
Ja, das glaube ich.

Was ist bei der Aufführung der Evangelistenpartie wichtig?
Ich glaube, daß man, um den Evangelisten zu singen, zunächstmal ein gutes Verhältnis zur Sprache haben muß, und dann eben auch zur deutschen Sprache, denn Bach hat nun einmal in der deutschen Sprache komponiert, und er hat eben auch die Akzente, und die Wortdeutlichkeit der deutschen Sprache genutzt. Und das ist erstmal das eine: die Wortbehandlung des Evangelisten ist sehr, sehr wichtig. Das Berichten, das Erzählen des Evangelisten ist von grundlegender Bedeutung. Das heißt, der Evangelist ist der Mittelpunkt des Stückes, wie Marionetten hat er alles in der Hand, der Evangelist. Er hat den Chor in der Hand, er hat den Solosänger in der Hand, er beherrscht die Schnelligkeit des Orchesters, die Übergänge, das Zuarbeiten, das Überleiten in eine neue Situation, in eine vielleicht sehr dramatische Aktion. Das alles ist die Aufgabe des Evangelisten. Und wie Sie wahrscheinlich schon hier im Kurs der Arien der Bach’schen Passionen gemerkt haben, lege ich eben größeren Wert darauf, daß nicht nur gesungen wird, nicht: Töne singen, nein, es muß etwas von der Erzählung, vom Bericht des Johannesevangeliums rüberkommen. Das sollte auf den Hörer einwirken. Ich meine, wir machen keine Kunst um der Kunst Willen, sondern wir sind wirklich dazu verpflichtet, unsere Aufgabe zu erfüllen, nämlich das Werk dem Publikum, oder dem Hörer, näherzubringen und es zu interpretieren.


Peter Schreier, Schwäbisch Gmünd, 07.2003



In England wurde eine englische Übersetzung der Johannespassion angefertigt und in Norwegen eine norwegische. Wie stehen Sie zu der Übersetzung Bachs in andere Sprachen, damit ein nicht-deutschsprachiges Publikum das Stück verstehen kann?
Diese Tendenz gab es in Deutschland auch zu Karl Richters Zeiten. Den Evangelisten mehr singen zu lassen und mehr auf die Melodie zuzugehen. Aber ich glaube nicht, daß das so ganz im Sinne Bachs war, einfach weil der Bericherstatter ein Teilnehmer ist und kein Neutrum, kein Mensch der nur sachlich berichtet, nein, er erlebt selbst mit während des Erteilens, er beteiligt sich am Geschehen, und das ist auch für meine Begriffe herauszulesen aus der Art, wie Bach die Evangelistenpartie geschrieben hat, nämlich mit unheimlich großen Intervalsprüngen, mit denen er diese Spannung erzeugt. Und deswegen finde ich den englischen Stil eigentlich ein bißchen, ja -- langweilig -- puristisch. Aber das ist natürlich Geschmackssache. Na ja, die Engländer sind dafür vielleicht empfänglicher, ich weiß es nicht.

Agricola hat in seiner Abhandelung über das Singen geschrieben, es gäbe drei unterschiedliche Formen des Rezitativs, die unterschiedlich behandelt werden sollten.
Ich glaube, daß alle Appogiatura im Sinne des Ausdrucks sein müssen: nicht als musikalische Notwendigkeit, sondern als Ausdrucksverstärkung. Man kan eine Appogiatura von oben oder von unten machen. Hier sollte aber das Wort mit den Ausdruck zusammenfallen und stimmen. Und das was zum Beispiel hier in einer vokalen Mix mezzavoce bedeutet. Selbverständlich sollte ein Evangelist in der Lage sein, mezzavoce zu singen, um auch diesen Ausdruck zu bringen. Also, ihr dänischer Kollege im Kurs, der ist mir noch zu viel Körper, zu viel Brust, der sollte an bestimmten Stellen noch ein bißchen mehr mezzavoce einsetzen. Deswegen bin ich der Meinung, daß wirklich alle Mittel, die dem Sänger zur Verfügung stehen, Mezzavoce, Sprache, Dynamik, eingesetzt werden sollten. Und keine Theorie daraus machen. Ich meine: was heißt da überhaupt Stil, oder stilecht? Natürlich kann man Bach nicht singen wie Wagner, aber es ist selbstverständlich, daß die Bachrezitativen mit einem bestimmten Stilgefühl gesungen werden sollten. Das heißt also: Mit den Mitteln eines lyrischen Tenors, eines Charaktertenors, der alle Facetten der Gestaltung beherrscht, im Idealfall natürlich. Also, insofern bin ich schon der Meinung, daß die Gestaltung der Rezitativen eine ganz bedeutende, große Aufgabe ist.

Meinen Sie, daß es generell keinen großen Unterschied zwischen dem Singen von Rezitativen in einem Oratorium und in einer Oper gibt?
Nein, den gibt es nicht. Da Bach bei der Kirche angestelt war, konnte er keine Opern schreiben. Aber ich bin der Meinung, die Passionen sind seine Oper, und daß das Rezitativ gar nicht genügend Ausdrucksformen haben kann, die vielleicht manchmal auf die der Opern zugehen.

Sie haben den Evangelisten charakterisiert als den Mittelpunkt der Passion. Ist das einer der Gründe für Ihre Auffassung, daß es für Sie selbstverständlich ist, Bachs Werk sowohl zu singen als zu dirigieren?
Deswegen mache ich es, ja. Weil der Evangelist im Mittelpunkt steht, kann ich auch dirigieren. Weil im Grunde der Evangelist der Dirigent ist! Er bereitet vor: Tempovorgabe, dynamische Vorgabe, artikulatorische Vorgabe; der Evangelist ist der Dirigent. Der Idealfall wäre ja, wenn der Evangelist gar nicht zu dirigieren brauchte: wenn man in die Joahnnespassion singt ”Sie anwortet ihm”, spielen die Streicher weiter, indem sie den Rhythmus vom Evangelisten übernehmen.

Im 18. Jahrhundert benutzte man oft die Rethorik in der Musik: es war wichtig, daß das Publikum gerührt wurde durch die Musik. Aber, ist der Evangelist auch gerührt durch die Musik, die er aufführt? Z.B. wenn er das Weinen Petrus' schildert?
Natürlich, der Evangelist hat alle Möglichkeiten. Die des lyrischen Singen, des mit Affekt Singens, die des Textinterpretierens. Das alles ist im Evangelisten drin. Aber ganz schlecht finde ich, wenn der Evangelist die Textpassagen zu sehr ”singt”, zu bedeutungslos singt. Was will das Publikum? Es will wissen, was in dem Stück passiert, und das muß der Evangelist rüberbringen. Und dazu hat er viele Möglichkeiten.

Sie haben eine Menge Aufnahmen mit u.a. Karl Richter gemacht, ein großer Dirigent von Bachs Musik...
Zu seiner Zeit! Jetzt nicht mehr!
Aber er hat noch immer einige Fans?
Ja, natürlich, schon. Ich meine, man war faszieniert von der Persönlichkeit Richters, aber man kann heute nicht mehr Richter nachmachen, ihn nicht nachahmen. Richter war Richter. Weil Richter eben auch bewußt Akzente setzte, um Spannungspausen zu machen, und ein sehr expressives Orchester spielen zu lassen wußte, kein Begleitorchester sondern ein teilnehmendes Orchester. Das war bei Richter schon toll, und die Entwicklung, die man durchmacht von Karl Richter oder von ganz früher, diese ganze Entwicklung bis heute ist für mich ein Märchen, wie eine Erzählung. Man entdeckt immer wieder neue Möglichkeiten und man ist immer wieder überrascht, was Bach alles hergibt.

Nehmen wir z.B. die Live-Aufnahme von Mengelberg aus 1939. Beim Hören stehen einem wirklich die Haare zu Berge. Aber auf seine Art immer noch schön.
Ja, absolut! Aber das ist seine Zeit! Ich finde es furchtbar, wenn heute unsere Generation über diese Dinge lacht. Das kann man doch nicht machen. In hundert Jahren lacht man auch über uns. Wer weiß.


Are Søholt ist ein norwegischer Tenor, der teilgenommen hat
am Meisterkurs über die Johannespassion während des "Festivals Europäischer Kirchenmusik" in Schwäbisch Gmünd, Mitte Juli 2003.

 



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