(Luxemburg) Im vergangenen Dezember hatte das Philharmonische Orchester Luxemburg Peter Schreier eingeladen, die drei ersten Kantaten des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach zu dirigieren und darin auch die Partie des Evangelisten zu singen. Wir erlebten ein zutiefst beglückendes Konzert.
Schreier ließ die Musik in plausibel gewählten Tempi, in kontrastreicher Akzentuierung und mit dem Glanz der prachtvoll aufspielenden Philharmoniker sehr lebendig aufblühen. Mögen die Parteigänger der historisch orientierten Aufführungen vielleicht auch die Köpfe geschüttelt haben, so finde ich, dass auch ein symphonischer Bach in unseren Tagen seine Berechtigung hat, zumal wenn die Dramatik der Musik so heraus gearbeitet wird, wie Schreier das tat. Wie dieser dabei seine beiden Positionen, als Dirigent und Sänger, zusammenspannte, war darüber hinaus eine Leistung, die man nicht genug würdigen kann. Er sang auswendig, den Text intensiv auslotend, sehr expressiv und mit einer Stimme, die seinem Alter beharrlich trotzt: sie ist biegsam und farbenreich geblieben und von faszinierender Kraft und Reinheit. Peter Schreier ist als Evangelist mehr denn je eine künstlerische Autorität.
Deutlich machte dieser Abend aber
auch, dass für das das Philharmonische Orchester die Rückkehr in
die Barockmusik durchaus geboten war. Diese Epoche wurde zu lange den Spezialisten
überlassen. Die Spielfreude und die Kompetenz der Musiker des Philharmonischen
Orchesters Luxemburg zeigten, dass auch ein solches Orchester in diesem Repertoire
etwas zu sagen hat.
Mit dem Favorite- und Capellchor
Leipzig stand ein Kammerchor zur Verfügung, der kaum Wünsche offen
ließen. Das Solistenquartett Barbara Christina Steude, Sopran, Anne
Kathrin Laabs, Mezzosopran [, Albrecht Sachs, Tenor] und Jochen Kupfer, Bariton,
harmonierte in denkbar korrekter Weise.
Mit dem Sänger und Dirigenten
Peter Schreier konnten wir während der Probetage das folgende Gespräch
führen.
Herr Schreier,
gestern habe ich, um ein Interview mit José van Dam vorzubereiten,
nach Fotos gesucht und dabei auch sehr viele Bilder gefunden, wo auch Sie
drauf waren. War das eigentlich eine besonders schöne Zeit, mit den vielen
Konzerten und Schallplattenaufnahmen unter großen Dirigenten wie Karajan?
Es gehörte in meiner
ganzen Laufbahn zu den Höhepunkten, unter von Karajan zu singen. Aber
jene Zeit wurde auch durch die kollegiale Zusammenarbeit eben mit Künstlern
wie José van Dam geprägt. Das war ein sehr natürliches und
konstruktives Zusammenarbeiten ohne Konkurrenzdenken, und José van
Dam war für mich auch in der menschlicher Art einer der größten
Künstler.
Sie haben Anfang
der Sechzigerjahre debütiert und singen immer noch. Eigentlich sind Sie
ein Musterbeispiel für einen Sänger, der seine Stimme stets so eingesetzt
und so geschont hat, seine Stimme so versorgt hat, dass man halt lange damit
arbeiten kann.
Das Wort geschont würde
ich vielleicht bestreiten, weil das könnte so aussehen, als hätte
ich mein Leben lang gespart, aber so ist es nicht: Ich habe versucht, meine
Stimme immer im richtigen Fach zu gebrauchen, also nicht über meine Verhältnisse
zu gehen. Natürlich könnten Sie jetzt fragen, warum ich denn den
Max im 'Freischütz' gesungen habe. Ich antworte: den habe ich nur für
eine Schallplatteneinspielung gesungen, auf besonderen Wunsch von Carlos Kleiber.
Er wollte einen ganz lyrischen Max haben und nur deswegen habe ich es gemacht,
nie auf der Bühne. Dann kam die Zeit mit Karajan, der mich auch zu einem
Ausflug in ein anderes Fach bewogen hat, das war der Loge im 'Rheingold'.
Und hier muss ich wirklich sagen, dass Karajan auch den richtigen Griff gehabt
hat, denn er sagte mir, der Loge sei genau so eine Partie wie der Evangelist
in der Matthäus-Passion, also eine Charakterstimme! Und er sagte: Wenn
ich unten stehe, werde ich das Orchester so behandeln, dass Sie keine Mühe
haben, darüber hinweg zu kommen. Und so war es auch. Ich hatte, wenn
ich so sagen darf, meinen größten Erfolg, zumindest war die Publikumsresonanz
anging, mit diesem Loge in Salzburg bei den Osterfestspielen. Und eben das
hatte ich zum großen Teil Karajan zu verdanken, der es verstand, diese
Partie des Loge rezitativisch anzulegen, dass also der Inhalt, die Sprache
und die Deklamation zum Tragen kamen.
Man sagt ja oft
heute, dass es nicht mehr so viele Dirigenten gibt, die einen Sänger
wirklich gut begleiten können, die mit einem Sänger atmen können…
Das möchte ich so generell
nicht sagen. Viele der jungen Dirigenten kenne ich nicht, aber ich glaube,
es kommt immer darauf an, wie ein Sänger reagiert. Zudem ist es ja heute
nicht mehr so, dass ein Dirigent ein absoluter Diktator ist, sondern man arbeitet
etwas gemeinsam aus. Also wenn ich an Metzmacher denke, oder an Welser-Möst,
das sind doch Dirigenten, die sind keine Pultvirtuosen sind, die nur an sich
denken, sondern die lassen sich auch von anderen animieren oder zumindest
anregen, und dann glaube ich schon, dass es noch welche gibt, die auf den
Sänger eingehen.
Nun, ich wollte
vorhin nicht sagen, Sie hätten ihre Stimme geschont. Sie haben tatsächlich
unheimlich viel gesungen, und das ist, wenn man Ihre Karriere mal etwas näher
betrachtet, schon etwas Besonderes.
Ich habe wahnsinnig viel
gesungen, eigentlich zuviel, weil mein Privatleben dabei schon etwas zu kurz
gekommen ist. Meine Söhne, die ja inzwischen schon über 40 sind,
alle beide, machen mir das schon mal zum Vorwurf, dass sie in ihrer Kindheit
nichts, aber auch gar nichts von mir hatten. Und wenn ich dann sage, sie seien
dafür aber jedes Jahr mit in Salzburg gewesen im Sommer, halten sie mir
vor, ich sei immer im Stress gewesen und hätte auch dort keine Zeit für
sie gehabt. Und eigentlich haben die beiden ja recht, denn wenn so über
25 Jahre jedes Jahr in Salzburg ist im Sommer, hat man auch eine Verantwortung,
einen Ruf zu verteidigen, man muss immer fit sein, ansonsten kann man dieses
Niveau nicht halten.
Wo lagen denn Ihre
persönlichen Präferenzen?
Ach wissen Sie, ich würde
sagen bei den großen Mozart-Opern, bei den Liederabenden und bei Bachs
Passionen. Diese drei Blöcke könnte man als meine Präferenzen
bezeichnen, alles andere ist gewissermaßen Beiwerk gewesen.
Und das waren auch
Ihre Stärken?
Sicher! Ich meine, von meiner
ganzen Veranlagung her, von meinem Timbre, von meiner Stimme war ich eigentlich
prädestiniert für Mozart und Bach.
Vorgeworfen wurde
Ihnen aber einmal von Kesting, nicht genug Farbe in Ihre Stimme zu bringen,
und Schumann hat mal gesagt, Sie seien manchmal so ein edler Vikar, der nicht
fähig sei, aus sich heraus zu gehen.
Ich gebe ich zu, dass ich gerade
in meinen jüngeren Jahren eher ein edler Sänger war und in den späteren
Jahren viel mehr der Charaktertenor wurde. Über Stimmen kann man ohnehin
streiten, das ist Geschmackssache! Die einen mögen diese Stimme, die
anderen eben jene, damit muss man leben.
Was Ihre Aufnahmen
betrifft, liegen meine persönlichen Präferenzen bei der 'Schönen
Müllerin' und beim David in den 'Meistersingern' mit Karajan, den Sie
meines Erachtens nach sehr, sehr gut gesungen haben, es ist für mich
die beste Aufnahme, die es davon gibt…
Welche 'Schöne Müllerin'
denn?
Die letzte,
mit Andras Schiff!
Ja, gebe ich zu, das könnte
sein, wie überhaupt meine letzten Aufnahmen und besonders die mit Andras
Schiff vielleicht die reifsten sind, auch die, wo ich Mut hatte, weg von dem
schönen Gesang zu gehen und mehr zu charakterisieren.
Sie sind ja damals
auch als Erbe von Fritz Wunderlich angesehen worden. War dies eine Last oder
war es eher förderlich?
Nein, das war eigentlich
Unsinn! Es war eben so, dass der Fritz Wunderlich starb und ich war plötzlich
da und in verschiedenen Dingen konnte ich einspringen. Aber ich war ja ein
ganz anderer Stimmtyp als Wunderlich. Ich war viel metallischer und er konnte
einen Alfred in der 'Traviata' singen, was für mich überhaupt nicht
in Frage kam. Dieser Vergleich kam leider in den Medien auf, war aber, wie
gesagt, Unsinn!
Heute wird ja immer
wieder geklagt, dass es zu wenige Tenöre gibt.
Das stimmt nicht, es gibt
eine Menge guter Tenöre, gerade in meinem Fach. Ich könnte Ihnen
auf Anhieb fünf oder sechs nennen. Die Palette ist sehr, sehr differenziert,
aber es gibt immer wieder gute Tenöre.
Von vielen hört
man einige Jahre lang etwas, und dann verschwinden sie recht schnell von der
Bildfläche.
In dem Punkt kann ich ihnen
Recht geben, denn leider lassen sich manche von den jungen Leuten zu schnell
verführen, in ein Fach höher zu gehen und schaden der Stimme. Und
so was macht man nicht sehr lange mit.
Wenn wir von jungen
Leuten sprechen, kommt natürlich, wenn man mit einem älteren Sänger
spricht, auch die Frage auf, ob man als Sänger die Erfahrung, die man
hat, weiter gibt, ob man unterrichtet. Ist das etwas, was Sie tun oder gerne
tun möchten?
Da treffen Sie in ein Wespennest!
Ich habe keine Geduld und deswegen bin ich für den Lehrberuf nicht sehr
geeignet. Auf der anderen Seite hab ich auch zuviel Verantwortungsbewusstsein,
um heute einem jungen Sänger eine gewisse erfolgreiche Karriere in Aussicht
zu stellen. Das ist für mich schon eine Frage der Verantwortung! Hin
und wieder gebe ich Kurse, aber da habe ich keine so sehr guten Erfahrungen
gemacht, weil meistens die Leistung oder der technische Stand der Sänger
nicht ausreicht, um wirklich an die Interpretation der Werke zu gehen. Denn
die schon etablierten Sänger, die technisch guten, die was lernen könnten,
die kommen nicht, weil sie schon etwas zu verteidigen haben und eine gewisse
Scheu davor, haben sich noch kritisieren zu lassen.
Wenn man heute
von Mozart oder Bach spricht, dann sagt man auch gleich historisierende Aufführungen.
Sie sind freilich nicht unbedingt der, der sagt, man müsse authentisch
sein.
Das Wort authentisch ist
mir wie ein Dorn im Auge, denn Authentizität in dem Sinne gibt es für
Bachs Musik nicht. Wir wissen alle nicht, wie bei Bach musiziert wurde, und
deswegen lehne ich dieses Wort ab. Mit historischem Gedankengut, mit Recherchen
auf historischer Ebene kann man sicherlich der Musizierweise aus Bachs Zeit
nahe kommen, aber das allein bringt ja nicht alles. Grundsätzlich einmal:
Wollen sie heute den Beethoven oder den Brahms lieber mit dem Hammerklavier
oder mit dem Steinway hören?
Ich? Lieber mit
dem Steinway!
Ja, ich auch, und ich meine:
es hat sich alles entwickelt, vom Gaslicht zur Glühbirne, und wieso sollte
das bei den Instrumenten nicht so sein. Wenn sich die Instrumente weiter entwickelt
haben, dann lasst uns doch daraus Nutzen ziehen. Ich liebe die neuen Oboen
ja viel mehr als die alten, die schwierig zu spielen sind, weil sie technisch
sehr schwer und unzuverlässig sind. Moderne Oboen kommen im Klang meinen
heutigen Ideal sehr viel näher. Bei den Streichern will ich gerne die
Art der Artikulation aus der historischen Praxis übernehmen, aber nicht
den Klang und schon gar nicht die Art, wie so etwas heute interpretiert wird,
ohne Vibrato, mit einem bauchigen Spiel. Wer sagt uns, dass das alles so war?
Meines Erachtens ist das nur eine Mode, eine absolute Mode. Es kommt natürlich
auch noch dazu, dass der Schallplattenmarkt gesättigt war mit Aufnahmen
von Leuten wie Karl Richter und vielen anderen. Es musste etwas Anderes kommen,
und da kamen zum Glück die Leute mit den historischen Einfällen.
Das hat sich aufgeschaukelt und wird gerne als die einzige Art angesehen,
wie man heute Bach oder die Zeitgenossen interpretieren darf. Aber das ist
nicht meine Welt! Ich bin der Meinung, dass in erster Linie Musik gemacht
werden soll, aus dem Menschen heraus, 'con core', mit Engagement, mit dem
sichtbaren Einsatz. Dann erst ist für mich die Spannung für ein
Musikerlebnis gegeben und nicht etwa durch irgendwelche technischen Einflüsse.
Sie haben ja vor
einer gewissen Zeit begonnen, Bach nicht nur zu singen, sondern auch zu dirigieren.
Ist es eigentlich schwierig, wenn man beide Sachen gleichzeitig machen muss?
Das eine profitiert vom anderen.
Natürlich ist meine ganze Interpretation auf die sängerische Ausstrahlung
hin konzipiert, aber der sängerische Körper, der Sänger Peter
Schreier, hat dadurch, dass er die Gesamtverantwortung übernimmt, eine
viel größere Körperspannung und kann auf diese Weise einen
Evangelisten gestalten, der aus dem Werk heraus entsteht, aus den dynamischen
Finessen, aus dem Tempi, aus dem Zeitmaß, aus der Attacca-Musizierweise,
und das allein verleiht für meine Begriffe - und die Kritiker sagen es
mir ja auch immer wieder - dem Ganzen einen viel größeren Zusammenhalt.
Der Evangelist hält als Person das ganze Stück zusammen. Er ist
so etwas wie der Spiritus Rector und eigentlich der Dirigent. So gesehen ist
die Matthäus-Passion oder das Weihnachtsoratorium kein Nummernmusizieren,
sondern die Musik läuft ab wie eine spannende Oper.
Was bedeutet Bach
Ihnen generell?
Gott! In einem Wort: Gott!
In den vierzig Jahren meines Beruflebens ist dies so gewachsen! Jede Bach-Aufführung
ist für mich ein Erlebnis. Er wird nie zur Routine. Bei Bach gibt es
für mich immer wieder etwas Neues zu entdecken, er fordert immer wieder
den ganzen Menschen aus mir heraus.
Sie haben viel
gesungen, ungemein viele Sachen gemacht. Gibt es irgendetwas, was Sie noch
nicht gemacht haben und gerne machen würden?
Das gibt es nicht! Ich habe
alle Dinge, die mir liegen und die ich gerne gemacht habe, gemacht und ich
bin auch heute überhaupt nicht mehr böse oder traurig, dass ich
vor drei Jahren die Oper 'ad acta' gelegt habe. Das ist für mich kein
Problem, denn mit fast 65 gibt es ja keine Partien - außer Palestrina
vielleicht -, die man noch singen kann und insofern war das Ausscheiden aus
der Oper für mich kein Problem, dies umso mehr weil ich ja noch weiter
Musik mache und mir die Musik in keiner Weise fehlt! R.F.
zurück
/ back