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Wie liegt die Stadt so wüst .....
Der Dresdner Kreuzchor in der Nachkriegszeit.
Gedanken von Peter Schreier.
Aus dem von den Kriegswirren fast unberührten Dorf Gauernitz kam ich am
1. Juli 1945 in die total vernichtete Stadt Dresden. Durch einen Zufall war ich der erste Alumne, der in die kargen Kellerräume der Oberschule Dresden-Plauen, in der unser Kreuzchor nach der Zerstorung der Kreuzschule eine neue Heimstatt finden sollte, einzog.
Die folgende Nacht kostete mich einige Tränen, denn ich war noch ganz allein.
Aber als am nächsten Tag meine kunftigen Kameraden eintrafen war bald aller Kummer vergessen. Es war eine aufbruchzeit, die ich bis heute fest in meinem Gedachtnis bewahrt habe. Der regelmässige Schulbetrieb hatte noch nicht begonnen, und so konnten wir uns ausschliesslich und ganz intensiv der Chorarbeit widmen, die neben den Proben vor allem das Neuschreiben von Noten beinhaltete.
Nicht nur die rnaterielle Not stellte uns vor fast unlösbare ufgaben, auch die Vernichtung des Notenmaterials (nur ein kleiner Teil war ausgelagert) zwang uns zur Selbsthilfe. Hier half Rudolf Mauersberger ganz entscheidend als Kornponist: Von jedem Ferienaufenthalt in seinern Heimatort Mauersberg brachte er eine speziell für den Kreuzchor geschriebene Komposition mit. Das zerstörte Dresden hat ihn zu der Motette "Wie liegt die Stadt so wüst" angeregt, ein Trauerhyrnnus, der bis heute Weltgeltung besitzt und zu den bedeutendsten Werken Mauersbergers zählt.Ich erinnere mich genau an die Uraufführung dieser Motette. Nachdem wir wochenlang täglich aus dern provisorischen Internat Dresden-Plauen die Chernnitzer Strasse entlang zu der ausgebrannten Kreuzkirche pilgerten, urn sie vom Schutt zu befreien, war es dann endlich soweit, dass wir vor einer grosseren Gemeinde - der Sender Dresden war auch dabei - diese Motette zur Aufführung bringen konnten.
Es fällt mir heute schwer zu beurteilen, welche Emotionen Musik und Worte bei den Menschen hervorriefen (war ich doch damals erst zehn Jahre alt) doch muss die Erschütterung gross gewesen sein, hatte doch fast jeder Opfer zu beklagen.
Die Arbeit im Chor machte mir viel Freude. Ich konnte mir nicht vorstelien, dass irgendwelche Schwierigkeiten auftreten wurden. Und doch war es so: Nach einer schweren Erkaltung, ich gehörte noch nicht einmal ein Jahr zum Kreuzchor, war meine Stimme einer Krise unterworfen, die ich heute nicht mehr klar definieren kann. Ärztlicherseits stellte man Stimmbandknöttchen fest. Prof. Mauersberger schickte mich zu dem ehemaligen Kreuzschullehrer Dr. Klunger, der sich nebenbei für Stimmtherapie interessierte. Ihm habe ich es zu danken, dass nach einer monatelangen vorsichtigen Übungszeit die Stimme wieder ansprach; doch aus dem hohen Sopran hatte sich eine Altstimme entwickelt.Vom letzten Platz im Alt rückte ich nun schnell vor bis zum Stimmführer. Von da an war es nur ein kleiner Sprung bis zum Altsolisten. Natürlich ist es der geheime Wunsch eines jeden Kruzianers, Solist zu werden, denn wie solte die Aussicht, aus der Menge der Namenlosen hervorzutreten, Beifall zu finden, womöglich den eigenen Namen im Programm oder in einer Kritik gedruckt zu lesen, ja, ihn auf einm Plakat betrachten zu können, ein ehrgeiziges Jungenherz nicht anspornen! Kommt aber der Augenblick, in dem man dann wirklich allein vor dem Chore steht und beweisen soll, ob man den Ansprüchen und der aussergewohnlichen Belastung gewachsen ist, sehen die Dinge ein wenig anders aus.
Ich entsinne mich, dass ich zwar von unserem Kantor jede Hilfe bekam, sei es in rhythmischen Verzögerungen, wie sie einem unversehens unterlaufen, sei es, dass bei einer Intonationsschwäche sein Zeigefinger unmissverständlich entweder nach oben oder unten zeigte; aber dass mir in der ersten Zeit bei jedem Solo die Knie zitterten, davor konnte er mich nicht bewahren. Einmal war meine Aufregung so gross, dass mir bei einem weltlichen Konzert in Laubegast die Tränen kamen. Als der Chor dann abtrat, war auf meinem Platz eine kleine Pfütze zurückgeblieben. Es können doch nicht nur Tranen gewesen sein..... Nach einem Erfahrungsjahr hatte ich mich an meine solistischen Aufgaben gewöhnt.
In den Jahren nach 1945 schrieb Rudolf Mauersberger noch weitere Werke, die dem Gedenken Dresdens gewidmet waren, darunter auch einige sehr beeindruckende Altsoli wie "De profundis" aus dem Dresdner Requiem und das "Vaterunser" aus der geistlichen Sommermusik. Man sagt, dass ihm meine Altstimme dazu besondere Anregung gegeben hat. So empfinde ich es als grosses Glück für mich, dass einige Rundfunkaufnahmen aus dieser Zeit Zeugnis davon ablegen.
Peter Schreier in "Triangel", 1997
www.mdr.de
Palais in Dresden, 1945