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"Werden Sie Sänger!"Es war 1943 in der alten Kreuzschule am Georgplatz. Mit anderen Anwärtern wartete ich auf den Augenblick, der darüber entscheiden sollte, ob ich einmal dem berühmten Chor angehören würde. Ich glaubte schon, daß uns Prüflingen das Herz mächtig geklopft hat; doch als wir dann dem "Gefürchteten" gegenüberstanden, war alles ganz anders, als wir es uns vorgestellt hatten. Freundlich, ja väterlich nahm er uns die Hemmungen beim Vorsingen. Mit dem Volkslied "Wem Gott will rechte Gunst erweisen" habe ich die erste Stufe auf der Leiter zum Kreuzchor genommen.
Nun kamm für mich achtjährigen Knirps eine herrliche Zeit, konnte ich doch allwöchtentlich einmal von unserem kleinen Dorf Gauernitz mit Autobus und Straßenbahn in die großen Stadt fahren. Fast zwei Jahre wurden wir mit Intervallübungen, Vom-Blatt-Singen und Notendiktaten "gefüttert". Das war notwendig, denn ohne diese Vorbereitung wären die schweren Aufgaben, die im Kreuzchor auf uns warteten, nicht zu bewähltigen gewesen. Wohlbehütet vom Elternhaus, habe ich von dem schweren Krieg, der damals Deutschland und die Welt erschütterte, kaum etwas gespürt.
Unser Vorbereitungszeit fand durch den Bombenangriff auf Dresden im Februar 1945 ein unvorhergesehenes Ende. Sämtliche Verbindungen zum Kreuzchor waren abgerissen. Ein Kind vergißt schnell, und so hatte auch ich kaum noch an ein mögliches Kruzianerdasein gedacht, als plötzlich im Juni 1945 ein Brief mit dem Absender "Dresdner Kreuzchor" im Kasten lag. Darin wurde ich aufgefordert, wenn ich noch Interesse hätte, mich für das Interimsalumnat des Kreuzchores, das man in den Kellerräumen der Oberschule Dresden-Plauen errichtet hatte, bei der Chorleitung zu melden. Professor Mauersberger hatte nicht aufgegeben.
Am 1. Juli 1945 zog ich als erster Alumnus mit meinen Habseligkeiten in die neue Heimat ein. Die folgende Nacht kostete mich einige Tränen, denn ich war ganz allein. Aber als am nächtsten Tag meine künfitgen Kameraden eintrafen, war bald aller Kummer vergessen. Heimweh konnte kaum mehr aufkommen, denn die Zeit war restlos mit Chor- uns Einzelproben ausgefüllt. Die Schriftbegabten unter uns (ich zählte nicht dazu) ergänzten in mühevoller Arbeit das Notenmaterial, das zum größten Teil am 13. Februar vernichtet worden war. Viele neue Kompositionen Professor Mauersberger bereicherten das Repertoire des Chores.
Nach kurzer Zeit fanden wieder Vespern und Konzerte statt. In fast pausenloser Mühe hatte unser Kantor den spezifischen Klang des Kreuzchores wieder erarbeitet. Kleine Konzertreisen "aufs Land", die ebenso willkommene Anwechslung brachten, wie sie auch den Alumnatstisch decken halfen, unterbrachen den Alltag.
Kreuzchor /Kreuzkirche
Eine besondere Vorliebe hatte der "Chef" für das Basteln. Es war für jeden Kruzianer eine Ehre, wenn er am Abend nach den Proben noch mithelfen durfte, sein originalgetreues Dorf Mauersberg in Miniaturausgabe aufzubauen.
Meine zweite Heimat war mir sehr lieb geworden. Die Arbeit im Chor machte mir viel Freude. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß irgendwelche Schwierigkeiten auftreten würden. Und doch war es so. Nach einer schweren Erkältung, ich gehörte noch nicht ein Jahr zum Kreuzchor, war meine Stimme einer Krise unterworfen, die ich heute nicht mehr klar definieren kann. Ärtzlicherseits stellte man Stimmbandknötchen fest. Professor Mauersberger schicke mich zu dem ehemaligen Kreuzschullehrer Dr. Klunger, der sich nebenbei für Stimmtherapie interessierte. Ihm habe ich es zu danken, daß nach einer monatelangen vorsichtigen Übungszeit die Stimme wieder ansprach; doch aus dem hohen Sopran hatte sich eine Altstimme entwickelt. Vom letzten Platz im Alt rückte ich nur schnell vor bis zum Stimmführer. Von da war es nur ein kleiner Sprung bis zum Altsolisten. Natürlich ist es der geheime Wunsch eines jeden Kruzianers, Solist zu werden, denn wie sollte die Aussicht, aus der Menge der Namenlosen hervorzutreten, Beifall zu finden, womöglich den eigenen Namen im Programm oder in einer Kritik gedruck zu lesen, ja, ihn auf einem Plakat betrachten zu können, ein ehrgeiziges Jungenherz nicht anspornen! Kommt aber der Augenblick, in dem man dann wirklich allein vor dem Chore steht und beweisen soll, ob man den Ansprüchen under der außergewöhnlichen Belastung gewachsen ist, sehen die Dinge ein wenig anders aus. Ich kann entsinnen, daß ich zwar von unserem Kantor jede Hilfe bekommen habe, sei es rhythmischen Verzögerungen, wie sie einem unversehens unterlaufen, sie es, daß bei einer Intonationsschwäche sein Zeigefinger unmißverständlich entweder nach oben oder nach unten zeigte, aber daß mir in der ersten Zeit bei jedem Solo die Knie zitterten, davor konnte er mich nicht bewahren. Einmal war meine Aufregung so groß, daß mir bei einem weltichen Konzert in Laubegast die Tränen kamen. Als der Chor dann abtrat, war auf meinem Platz eine kleine Pfütze zurückgeblieben.... Es konnte doch nicht nur Tränen gewesen sein.
Nach einem Erfahrungsjahr hatte ich mich an meine solistischen Aufgaben gewöhnt. Mein "Repertoire" reichte bald von den "Kleinen geistlichen Konzerten" von Heinrich Schütz über die Schemelli-Lieder Bachs zu den Weihnachtsliedern von Peter Conelius. Die schönste Anerkennung bedeutete es jedoch, daß Professor Mauersberger einige seiner Kompositionen - wie das "Nocturno", das "Vaterunser" aus dem "Geistlichen Sommermusik", das "De profundis" aus dem "Dresdner Requiem" und mehrere Volksliedbearbeitungen - geradezu für meine Stimme entworfen hat. Fast aus jedem Urlaub brachte er damals ein neues Werk fur Altsolo und Chorbegleitung mit. Kaum einstudiert, erschien es auf unseren Programmen. Da unser "Chef" genau wußte, welche Anforderungen er an den Chor und an seinen Altsolisten stellen konnte, war der Erfolg von vornherein gesichert. Den Höhepunkt meiner Solistenlaufbahn bildete das Bachjahr 1950. Professor Mauersberger wagte das Experiment, die Sopran- und Altpartien in der Johannespassion und in der h-Moll-Messe mit Knabensolostimmen zu besetzen. Ich nenne es deshalb ein Experiment, weil in Fach- und Laienkreisen vielfach bezweifelt wird, daß ein Kind solche Partien wirklich gestalten kann. Der Erfolg bestätigte das Wagnis. Noch heute bin ich der Meinung, daß die Reinheit und Innigkeit einer Knabenstimme am besten das auszudrücken vermag, was Bach uns mit seinen großen Sopran- und Altarien sagen wollte. Wenn ein Kind auch den tiefen Sinn der Worte nicht begreift, so ist es doch eben die natürliche, unbewußte Anmut der Stimme, die dem Hörer die Bedeutung des Textes nahebringt. Freilich bedurfte es einer Leidenschaft für die Knabenstimme, wie sie Rudolf Mauersberger hat, um solche Leistungen zu ermöglichen.
Diese Leistungen blieben nicht auf Dresden und seine nährere Umgebung beschränkt. Eines Tages unternahmen wir wieder Auslandsreisen. Wie viele Länder Europas habe ich so in meiner Kindheit bereist! Merkwürdig nur, daß man in diesem frühen Alter so wenig Sinn für Sehenswürdigkeiten und Schönheiten der Landschaft hat. Nur wenig davon ist mir in Erinnerung geblieben. Weit mehr befaßte sich unser Interesse mit der materiellen Seite des Reiselebens. Wir wurden allgemein verwöhnt, was dem Leistungsvermögen des einzelnen Kruzianers durchaus nicht immer zuträglich war. Unser liebe Professor hatte oft siene Mühe und Not, daß uns die Bäume nicht in den Himmel wuchsen. Ich kann mich erinnern, daß er einige Male die Reisebusse irgendwo im Walde anhalten ließ, um uns, ohne Publikum, eine gehörige Standpauke zu versetzen. Einmal hatte es mich "erwischt". Es war an historischer Stätte im Bayreuther Festspielhaus. Am Tage zuvor hatte ich geglaubt, während einer Sportveranstaltung die Sportler mit gewaltigem Stimmenaufwand anfeuern zu müssen. Dabei hatte ich mich so verausgabt, daß nun, in der Stelleprobe für das Konzert, die Folgen zu spüren waren: Professor Mauersberger stellt fest, daß ich "stockheiser" war. "Das nächste Mal bleibst du zu Hause!" Das schlug ein; nie wieder bin ich vor einem Konzert zu einer "lautstarken" Veranstaltung gegangen.
Mit der Mutation hatte die Herrlichkeit vorläufig ein Ende. Es war ein eigenartiges Gefühl, plötzlich nicht mehr "dazuzugehören". Am Tage wurde das nicht so spürbar wie abends, wenn der Chor zu Konzerten oder Vespern ausgeflogen war. Wie überflüssig kam man sich dann oft vor! Nach dreiviertel Jahr absoluter Gesangsruhe stelte ich mich beim Professor zum Stimmprüfung vor. Er meinte zwar, es sei etwas früh, aber ich könnte es ja probieren. Da die Tenöre auch im Kreuzchor nicht allzu zahlreich vertreten waren, kam ich sogleich in die Konzertbesetzung.
Als besondere Ehre empfand ich es, daß ich wegen meiner Leistungen schon als Angehöriger des Knabenchores dritter Präfekt werden durfte. Unser Professor traute mich gleich ziemlich viel zu, so daß ich mich tüchtig anstrengen mußte, um seinen Anforderungen gerecht zu werden. Eigentlich hatte ich mich bis dahin kaum mit Partiturspiel befaßt. Nun hieß es, sich, so gut es gehen wollte, hineinzufinden. Oft, wenn ich Einzelproben mit "Kleinen" zu halten hatte, erschien der Kantor, selbst ein hervorragender Partiturspieler, und gab mir wertvolle "Tips", so daß ich bald die nötigen Kenntnisse erworben hatte, auch einmal eine größere Probe zu übernehmen. Durch einen tragischen Unglücksfall kam unser damaliger erster Chorpräfekt ums Leben. Nach einer kurzen Übergangszeit stand ich vor der Aufgabe, sein Amt auszufüllen. Schon der Umstand, daß ich noch ziemlich jung war und nicht zur chorältesten Klasse gehörte, war für mich erschwerend. Hinzu kam, daß zu jener Zeit gerade sehr komplizierte moderne Werken von Drießler, Reda und Pepping erarbeitet werden sollten. Dabei spielte bei der Tätigkeit eines Chorpräfekten noch nicht einmal das fachliche Können allein die ausschlaggebende Rolle, denn ebenso wichtig ist eine gewisse erzieherische Befähigung, über die ein Schüler meist nicht verfügt. Eben noch im Unterricht mit allen Fehlern und Schwächen eines Lernenden behaftet, steht er vor den Proben vor der Menge Älterer, Gleichaltriger und Jüngerer, muß seine volle Kraft einsetzen, um ihrer Kritik standzuhalten, ja, ihr Vertrauen zu erringen, ohne das eine ernsthafte Zusammenarbeit nicht möglich ist.
Peter Schreier 1954
Eine kleine Portion Respekt hatte ich mich schon bei unseren zahlreichen und sehr beliebten Fußballmatches erworben, obwohl diese Art der Autorität nicht ganz im Sinne des Professors lag. In diesem Zusammenhang fällt mir eine kleine Episode ein: Vor einer mehrwöchigen Konzertreise hatte ch mir einem neuen Fußball mitgebracht. Wir kamen nachts halb vier, es begann gerade zu dämmern, mit unseren Bussen auf der Eisenacher Straße an. In dem allgemeinen Hin und Her des Begrüßens, der Anwesentheit vieler Eltern, des Verabschiedens der Autobusfahrer war es nicht aufgefallen, daß ich mit zwei "Kollegen" nicht zu Bett gegangen war. Als es im Hause still wurde, holten wir den Fußball aus dem Koffer und starteten auf dem morgendlichen Schulhof heimlich ein kleines Spiel. Übersehen hatten wir allerdings, daß der Kantor auch noch wach war, plötzlich vor uns stand und unsere Gedanken auf die ihm eigene Weise "im Richtung Schlafsaal" lenkte.Die Probenarbeit mit dem Chor und das große Vertrauen, das Professor Mauersberger in mich setzte, machten mir mit der Zeit so viel Freude, daß ich ernsthaftlich erwog, die Kapellmeisterlaufbahn einzuschlagen, denn jetzt trat das schwere Problem der Berufswahl an mich heran. Daß ich bei der Musik bleiben würde, stand fest. Sänger zu werden, fehlte mir merkwürdigerweise das Selbstvertrauen. Ratsuchend wandte ich mich an unseren "Chef". Er war es, der mir bewies, daß als Kreuzchorpräfekt einmal eine Vesper oder ein kleines Konzert zu dirigieren noch längst nicht bedeutet, große sinfonische Werke oder Opern musikalisch gestalten zu können. "Ihre Begabung liegt auf dem Gebiet des Stimmlichen; werden Sie Sänger!" Ich habe es nicht bereut, diesen Worten gefolgt zu sein. Nicht nur diese Anregung, sondern die jahrelange musikalische und menschliche Erziehung, die ich im Kreuzchor durch Rudolf Mauersberger erfuhr, ist für mich ausschlaggebend geworden.
Aus:
Begegnungen mit Rudolf Mauersberger
Dankesgaben eines Freundeskreis
Evangelische Verlagsanstalt Berlin
Zusammengestellt in 1963