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Wiener Zeitung
04.12.2015

"Es gehört Mut dazu, sich zu präsentieren"
Von Hermann Schlösser
Kammersänger Peter Schreier erzählt von seinen Anfängen im Dresdener Kreuzchor und erklärt, wie man eine lange Sängerlaufbahn sinnvoll plant - und welche Ziele er in seinen Meisterklassen verfolgt


"Wiener Zeitung": Herr Schreier, Ihr Sängerleben begann 1945 als Knabensolist im Dresdener Kreuzchor. Was haben Sie für Erinnerungen an dieses Jahr?
Peter Schreier: Das war ja eigentlich eine schlimme Zeit nach dem Krieg. Wir Jungen hatten noch gar keine Schule, die Lehrer waren entweder im Krieg gefallen oder als Nazis belastet. Alles fing sehr langsam von vorne an. Aber wir im Kreuzchor wurden durch diese Schwierigkeiten auch zusammengeschweißt. Wir haben in einer engen Gemeinschaft gelebt, jeder war auf den anderen angewiesen. Und dieser Gemeinschaftswille hat natürlich auch Auswirkungen auf die musikalische Wiedergabe gehabt.

Wie hat der Chor überhaupt arbeiten können?
Es dauerte eine Zeit, bis der Kreuzchor wieder hergestellt war. Manche waren kurz vor Kriegsende mit 17 Jahren noch eingezogen worden, und andere sind bei dem großen Bombenangriff auf Dresden ums Leben gekommen. Die Normalität ging da noch lange nicht los. Es war alles improvisiert, wir mussten die Noten selber schreiben, weil das alte Notenmaterial beim Luftangriff verbrannt ist. Aber dadurch ist ein Zusammenhalt entstanden, wie ich ihn nie mehr im Leben gefunden habe. In schlechten Zeiten ist der Zusammenhalt immer am besten.

Aber gab es in diesen schlechten Zeiten auch ein Bedürfnis nach Musik?
Ja! Das war überall zu spüren. Und weil das alte Notenmaterial eben verloren war, war Rudolf Mauersberger, der damalige Leiter des Kreuzchores, fast gezwungen, neue Musik für uns zu schreiben. Er war ein sehr guter Komponist, und so haben wir vieles singen können, was aus der Zeit und der Not heraus entstanden ist. Das waren zum Teil auch "Schmankerln", wie man heute sagen würde, die dem Chor sehr gut lagen, und die Mauersberger genau auf die Möglichkeiten und Fähigkeiten des Chors hingeschrieben hat. Manches hat er speziell für meine Stimme geschrieben. Auch deswegen erinnere ich mich eigentlich gern an diese Zeit zurück; da sind meine Anfänge und meine Wurzeln.


HermannSchlösser - Peter Schreier, 10/2015


Der Kreuzchor gehört zur evangelischen Kreuzkirche . . .
. . . ja, genau wie der Thomanerchor in Leipzig zur Thomaskirche gehört . . .

Sind diese traditionsreichen Einrichtungen in der DDR jemals in Frage gestellt worden?
Nein, da wurde niemals daran gerüttelt. Interessant ist ja, dass die russische Administration 1945 angeordnet hat, dass der Kreuzchor sofort wieder ins Leben gerufen werden soll.

Wie ist das zu erklären?
Die Russen sind außerordentlich kunst- und musikliebende Menschen. Es gab unter den sowjetischen Offizieren hochgebildete und hochmusikalische Leute. Das darf man nicht vergessen. Und aus diesem Grund kamen von der russischen Besatzung keine politischen Einschränkungen. Erst später, als die deutschen Kommunisten in der DDR die Macht übernahmen, wurde versucht, die Kirche zu unterdrücken. Aber den Kreuzchor und den Thomanerchor hat man trotzdem nie angetastet.

Wurde die kirchliche Chormusik als schützenswertes kulturelles Erbe betrachtet?
Ja, genau. Ein Freund von mir hat ein Buch über den Kreuzchor geschrieben, in dem er zeigt, dass die Nationalsozialisten in die Arbeit des Kreuzchors sehr viel stärker eingegriffen haben als die sowjetische Besatzung oder die Institutionen der DDR. Das muss man wirklich anerkennen. Und für mich ging das ja in meiner späteren Laufbahn so weiter: Die DDR hat mich in meiner Arbeit nie behindert. Natürlich war da der Hintergedanke dabei, dass ein Sänger wie ich eine gute Reklame für die DDR war, das ist klar.

In der DDR hat es eine hohe Musikkultur gegeben: sehr gute Orchester und Dirigenten, interessante Opernregisseure, ausgezeichnete Sänger. Heißt dass, das die klassische Musik ein gut integriertes Element in der DDR-Gesellschaft gewesen ist?
Ja, sicher. Aber wir waren irgendwie auch eine Insel der Glückseligen in diesem Staat.

Hatten Sie selbst auch eine Beziehung zur zeitgenössischen Musik der DDR, also zu Komponisten wie Hanns Eisler, Paul Dessau und anderen?
Diese Musik wurde natürlich in einem Maße gefördert, wie das vielleicht im Westen nicht denkbar gewesen wäre. Das war eine Zwangsförderung, aber ich habe das als angenehm empfunden. Vor allem zu Dessau hatte ich auch persönlich eine gute Beziehung, wir haben uns sehr gut verstanden, ich habe mehrere Schallplatten mit Dessau-Liedern gemacht, aber auch die Werke anderer Komponisten habe ich gesungen. Das war für uns ein gewisses Muss; man hat eben versucht, in der modernen Musik mitzutun, damit sie vorwärts kommt.

Und wie standen Sie zur westeuropäischen Avantgarde?
Werke von Boulez, Nono, Dallapiccola usw. in der DDR aufzuführen, war schwierig. Aber das lag vor allem am Mangel an Devisen, da gab es nicht viele Möglichkeiten, westliche Devisen für die Tantiemen dieser Komponisten aufzubringen. Aber trotzdem war manches möglich, ich habe Dallapiccola gesungen, und Nono habe ich sogar persönlich kennengelernt. Ich war eine Zeit lang im Rundfunkchor im Leipzig, und dieser Chor hat auch zeitgenössische Musik in einer Perfektion aufgeführt, wie man sie nicht besser kriegen konnte.

Sie haben in langen Jahren Ihre Stimme aufgebaut und Ihre Möglichkeiten kontinuierlich erweitert. Man hört oft, dass heutige junge Sänger diese Chance nicht mehr haben, weil ihnen zu früh große Rollen zugemutet werden, denen die Stimme noch nicht gewachsen ist. Sehen Sie diese Gefahr auch?
Ja, aber das gab es schon immer. Ich habe im Lauf meiner Karriere viele Sänger erlebt, die ganz schnell hochgepusht wurden, aber auch ganz schnell wieder verloschen waren. Die Gefahr besteht, dass man von Managern oder bestimmten Kulturinstitutionen angetrieben wird, ohne Rücksicht auf die eigenen Möglichkeiten und die eigene Veranlagung zu agieren. Aber da ist auch die Intelligenz des Sängers gefordert. Wer einigermaßen klug ist, lässt sich nicht verheizen, sondern nimmt sich Zeit für die Karriere und geht vor allem einen geraden Weg. Es hat keinen Sinn, wenn man als lyrischer Tenor zu früh ins italienische Fach geht. Da macht man sich kaputt. Wenn man eine kontinuierliche Karriere machen will, muss man wissen, wie weit man gehen kann.

Es kommt also darauf an, dass man das eigene Können realistisch einschätzt: Dieses kann ich, jenes kann ich noch nicht, und manches werde ich nie können. Haben Sie selbst das immer ganz genau gewusst?
Ja, das habe ich schon gewusst. Ich habe einige Ausflüge über mein Fach hinaus gemacht, habe z. B. den Loge im "Rheingold" unter Karajan gesungen, oder den Max im "Freischütz" - den aber nur auf der Schallplatte, auf ausdrücklichen Wunsch von Carlos Kleiber. Also ein paar solcher Ausflüge konnte ich gerade so wagen. Aber letztlich haben sie mich davon überzeugt, dass ich damit vorsichtig sein muss. Vielleicht habe ich sie auch deshalb riskiert.

Brauchten Sie bei solchen Rollenentscheidungen Beratung, etwa von guten Freunden?

Das ist gefährlich. Freunde möchten gerne, dass man Erfolg hat, aber sie sehen nicht unbedingt die Gefahren für die Stimme, die dahinter stehen. Deswegen muss man selbst entscheiden, welche Aufgabe man in Angriff nimmt und welche man lieber lässt.

Trotz dieser klugen Beschränkung haben sie dennoch das gesamte Spektrum der Gesangskunst durchmessen: Oper, Oratorium und Lied.
Ja, das war vielleicht sogar eine Voraussetzung für meine lange Laufbahn. Durch diese breite Fächerung habe ich immer die Kon-trolle über meine Stimme behalten. Bei einem Liederabend entwickelt man eine wahnsinnige Kontrolle über sich selbst, und das wirkt sich dann wieder positiv auf den Opernauftritt aus. Bei einem Opernabend muss man sehr ökonomisch mit der Stimme umgehen, natürlich kann man in bestimmten Augenblicken weiter gehen, aber nicht über lange Zeit. Ich habe heute manchmal ein bisschen Angst um die jungen Tenöre, zum Beispiel auch um Jonas Kaufmann. Die gehen nicht sehr ökonomisch mit ihrem Material um, und da besteht die Gefahr, dass sie sich übernehmen.

Und welche der drei Sparten war Ihnen die liebste: Oper, Oratorium oder Lied?
Das ist jetzt eine gemeine Frage, weil ich ja keinen beleidigen möchte! Aber letztlich hat mir wohl doch der Liedgesang die größte Befriedigung gegeben, weil ich da alle Facetten der Gestaltung zeigen konnte. Die Oper ist ein Spektakel, aber das Lied ist eine intime Angelegenheit.

Und wie steht es mit dem Oratorium? Sie waren einer der bedeutendsten Interpreten der Evangelisten-Partien in Bachs Passionen!
Sie haben natürlich Recht, der Evangelist war meine Lieblings-Darstellung, das kann ich gar nicht verleugnen. Aber auch im Oratorium ist man von einem guten Orchester und einem guten Continuo-Spieler abhängig. Im Liedgesang hat man eben einen Pianisten bei sich, und wenn man Glück hat, ist das ein sehr guter wie András Schiff zum Beispiel, und da entsteht geradezu ein Zwang zur Intimität, der mich sehr gereizt hat.

In dem Meisterkurs, den Sie gerade in Wien abhalten, arbeiten Sie mit den Sängern an der minutiösen Gestaltung eines Liedes. Selbst die Kopfhaltung wird dabei korrigiert. Was ist der Zweck dieser Übungen?
Ich meine, es gibt herrliche Stimmen, die aber ganz langweilig wirken können, weil die Gestaltung mangelhaft ist. Das zeigt sich beim Lied natürlich besonders stark. In der Oper hat man sehr viel mehr Hilfsmittel, um etwas auszudrücken, man hat das Orchester als Hilfe, das Bühnenbild, die Regie. Aber wenn man beim Liederabend alleine auf der Bühne steht und etwas an das Publikum rüberbringen soll, dann verlangt das einen großen geistigen Einsatz und vor allem eine Bühnenpräsenz. Und da fangen dann die Unterschiede zwischen Liedsänger und Liedsänger an.

Wie lange geben Sie schon Meisterkurse?
Das habe ich in meiner sängerisch aktiven Zeit schon gemacht, und vielleicht hilft es den jungen Sängern dabei, ihre Persönlichkeit zu erkennen. Alle sind bemüht, schön zu singen, und manche haben auch schöne Stimmen, aber sie müssen noch lernen, aus sich herauszutreten und dem Publikum singend etwas zu erzählen. Es gehört Mut dazu, sich zu präsentieren. Es gibt heute viel gute Qualität im Sängerischen, aber im Gestalterischen brauchen alle ein bisschen Nachhilfeunterricht.

Genau dafür gibt es die Meisterkurse für Fortgeschrittene.
Ja, mit Anfängern kann ich nichts anfangen. Wer zu einem Meisterkurs kommt, muss schon ein gewisses Maß an stimmlicher Technik haben. Es müssen sängerische Voraussetzungen da sein, damit man arbeiten kann. Ich erinnere ich mich an den ersten Meisterkurs, den ich in Salzburg gemacht habe. Da waren einige Japanerinnen, die noch sehr am Anfang waren, denen sollte ich alles vormachen, damit sie es nachmachen. Da musste ich mich sehr zusammennehmen, dass ich nicht die Geduld verliere. Wenn die Grundlage fehlt, dann hat ein Meisterkurs nicht viel Sinn.

Sie haben auch immer wieder dirigiert. Wie unterscheidet sich das vom Singen?
Ich bin beim Dirigieren ausgegangen vom Evangelisten in der "Matthäus-Passion", der ja im Grunde der Spiritus Rector des Ganzen ist. Er kann die Stimmung vorgeben, er kann das Tempo und die Dynamik bestimmen, er ist also quasi der Dirigent des Ganzen. Und aus dieser Erfahrung bin ich zum Dirigieren gekommen. Ich habe mir einige Stücke einverleibt, die ich auch als Solist gesungen habe, oder die ich von der Chorarbeit her sehr gut kannte. Aber zu einem Dirigenten, der ganz spezifisch das macht und sonst nichts, bin ich dadurch nicht geworden. Ich habe immer eine Richtung gesucht, wo ich das mit dem Singen verbinden konnte, und ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Orchester sich immer gerne von einem singenden Dirigenten beflügeln oder beeinflussen lassen. Also so habe ich diese Arbeit immer eingeschätzt: Ich bin ein vom Sänger kommender Dirigent.

Wie wird es mit der klassischen Musik weitergehen?
Also, für die Zukunft der klassischen Musik sehe ich nicht schwarz. Im besonderen wird ja jetzt immer wieder gesagt, die Liederabende seien eine nicht mehr zu verkaufende Sparte im Konzertbetrieb. Das sehe ich nicht so. Man muss allerdings bedenken, dass Liederabende nie für ein riesiges Publikum gedacht waren. Das ist eine kammermusikalische Form, und da hat es keinen Sinn, in große Räume zu gehen und Mühe zu haben, einen solchen Saal zu füllen. So sind Lieder nicht gedacht, sie gehören in den kleinen Kreis, eigentlich sogar in Privatzimmer. Also hier in Wien ist der Brahmssaal im Musikverein eine ideale Voraussetzung für einen Liederabend. Wenn man in solchen Räumen singt, dann funktioniert das gut.


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