Kann
man Ihre Carte Blanche als ein persönliches Bekenntnis nach einer mehr
als 50-jährigen künstlerischen Laufbahn bezeichnen?
Ja, absolut. Schubert, Mozart, Bach und die Orgel als Begleitinstrument
sind wie Eckpfeiler in meinem musikalischen Leben, zu denen ich immer wieder
zurückkehre.
Gibt
es Programmwünsche, die Sie nicht unterbringen konnten?
Vielleicht wäre da der Liedkomponist Schumann zu nennen. Aber da ich
Ende Juni bei der Schumanniade in Kreischa mitwirke ist es nicht notwendig,
diesen Komponisten auch noch bei den Musikfestspielen unterzubringen.
Und
wie steht's es mit der Oper?
Ich habe gerne diese 40 Jahre Oper gesungen, aber mein Herzblut habe ich an
den Liederabend und an Bach verschenkt. Zurückblickend muss ich gestehen,
es hat mir auf der Opernbühne zu wenig künstlerisch befriedigende
Abende gegeben. Das hängt mit den vielen Faktoren zusammen, die bei einer
Opernaufführung eine Rolle spielen: die Regie, die Partner auf der Bühne
und im Orchestergraben, der Dirigent, der Bühneraum. Und diese vielen
Faktoren kommen sehr selten so zusammen, dass es eine perfekte Sache wird.
Heute ist ja die Regie sehr wichtig und es bedarf da schon einer neuen Generation
an Sängern, die das akzeptiert; vielleicht auch an Publikum, aber wie
ich sehe, ist das immer noch konzervativ. Die Oper is ein traditionsreiches
Gebilde, und ich weiß nicht, ob das, was da heute so unternommen wird,
dazu taugt, die Oper vor der Erstarrung zu retten. Ingesamt wirklich überzeugt
haben: "Cosi fan tutte" von Günther Rennert, "Zauberflöte"
von Ponelle, "Palestrina"
von Erhard Fischer, "Rheingold" unter dem Dirigat und in der Inszenierung
von Herbert von Karajan und unbedingt zu nennen "Der Barbier von Sevilla"
von der Berghaus. Nun kommt noch hinzu, dass ich vom Alter her wirklich kein
Tamino mehr bin. Als ich mich vor zwei Jahren mit dieser Rolle von der Oper
verabschiedete, musste ich schon sehr lachen, als die Drie Damen zu mir sagten:
"Jüngling, dein Betragen war bisher männlich und gelassen".
Fehlt
Ihnen nicht die typische Theateratmosphäre?
Nein, bisher habe ich noch keinen Moment der Wehmut verspürt, im Gegenteil
- und das wird meine Opernfans jetzt herb enttäuschen -, dieses Garderobenflair,
das ganze Angehose, die Schminkerei und erst das Abschminken habe ich nie
geliebt.
Ihr
erster Auftritt bei der diesjärigen Festspielen wird aber der Parsifal
sein, haben Sie der Bühne als Tamino den Rücken gekehrt, um als
Parsifal zu ihr zurückzukommen?
Um Gottes Willen, nein! Ich bekomme schon Anrufe deswegen, ob ich nicht
Parsifal in Hamburg singen will. Das habe ich natürlich abgelehnt. Also,
wegen der zwei Sätze, die ich im Eröffnungskonzert in der Kreuzkirche
singen werde, fühle ich mich nicht zur Oper zurückbeordert - und
auch nicht wortbrüchig! Das betrachtige ich für mich als einem Jux.
Im übrigen finde ich aber die Idee des Mitsingkonzerts ganz hervorragend.
Ein
Schwerpunkt ist Ihr Liederabend. Im ersten Teil geben Sie Schuberts "Schwanengesang".
Ist diese Auswahl als leise Mitteilung an Ihre Dresdner Freunde gemeint?
Nein, so ist das nicht gemeint. Als Liedsänger habe ich mir
eine persönliche Grenze für das Jahr 2005 gesetzt. Ich hoffe aber
sehr, dass ich selbst merke, wenn die Stimme nicht mehr so funktioniert, wie
sie sollte. Was die "Johannespassion" betrifft, so könnte es
durchaus sein, dass es eine der letzten sein wird, die ich singe. Das hängt
von den Umständen ab. Für den Schubert wollte ich den Hammerklavierspezialisten
Alexei Lubimov dabei haben, mit dem ich schon viele Konzerte gegeben habe,
unter anderen auch den "Schwanengesang" in der Carnegie Hall in
New York. Obwohl er in den ganzen Welt gastiert, ist Lublimov in Dresden ziemlich
unbekannt. Deshalb freue ich mich sehr, dass ich hiermit Gelegenheit habe
ihn vorzustellen.
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Wolflieder
standen zumindest 1992 noch nicht auf Ihrer Favoriten-Liste. Das begründeten
Sie damit, dass es dem Publikum schwerfällt, Wolf zu folgen.
Das ist eine interessante Frage. Der Hugo Wolf ist schon ein Meister
der Liedkomposition, aber mehr im intellektuellen Sinne, nicht so sehr im
volkstümlichen. Mein Artz beispielweise, der ein großen Musikliebhaber
ist, geht Hugo Wolf aus dem Weg. Er sagt, "der ist mir zu versponnen,
da muss ich zu viel musikalische Bildung haben, um Genuss daran zu finden".
Im Gegenteil dazu Schubert, der sofort Eingang findet. Deshalb ist Hugo Wolf
auch bisher so unterwertet worden. Selbst im "Lied-wilden" Wien.
Von den 150 Liederabenden, die ich im Musikverein gegeben habe, waren davon
vielleicht zwei mit Wolf, weil selbst die Direktoren immer die Hände
hoch nahmen, wenn ich mit diesem Komponisten ankam. Ich selbst bin wie die
Schwarzkopf ein großer Verehrer von Hugo Wolf, aber eher für mich
privat. Es ist kolosal schwer, das Publikum daran teilhaben zu lassen. Insofern
finde ich es sehr gut, dass wir dieses Wolf-Jahr dazu benutzen, ihn populärer
zu machen.
Kommen
wir zum "Heiteren Mozart".
Ja, dieses Programm ist einmal für eine Schallplatteneinspielung der
EMI entstanden, und ich habe es oft mit dem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel
Bach gemacht, auch unter der Leitung von Hartmut Haenchen. Ich denke, dass
dieser Abend gerade auf der Freilichtbühne vor dem Palais seine Wirkung
nicht verfehlen wird. Und als Mozarttenor kann ich meinem Fanpublikum wenigstens
auf diese Weise noch etwas anbieten.
Seit
wann arbeiten Sie mit diesem Orchester zusammen?
Als Sänger seit seiner Gründung durch Harmut Haenchen an der Berliner
Staatsoper. Als er dann 1986 nach Amsterdam ging, bat er mich, mich um sein
Orchester als Dirigent zu kümmern. Das tat ich, denn Haenchen hat dieses
Orchester auf ein sehr hohes Niveau gebracht.
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Gibt
es weitere Berührungspunkte zu Harmut Haenchen?
Wir waren beide im Kreuzchor. Als ich mein Desaster mit dem Matthäus-Evangelisten
hatte, wird er das wohl als junger Spatz im Chor miterlebt haben. Außerdem
fuhr ich auf meinem täglichen Weg zur Schule immer an der Gärtnerei
Teschendorf, die der Familie Haenchen gehörte, vorbei. In meiner Zeit
als Solist an der Staatsoper Berlin habe ich Harmut oft auch als Dirigent
von Opernaufführungen erlebt. Nun wohnen wir in Loschwitz nicht weit
voneinder, aber da wir beide so viel in der Welt unherreisen, begegnen wir
uns als Nachbarn ausgesprochen selten.
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Die
Orgelmatinee in Seußlitz ist auch ein Programmwunsch von Ihnen?
Ja, ich habe dort in der George-Bähr-Kirche schon einmal gesungen. Und
ich finde es richtig, dass die Musikfestspiele diese umliegenden Touristattraktionen
auch in ihr Programm aufnehmen. Michael-Christfried Winkler an der Orgel ist
ein alter Partner von mir, und ich habe ihn überreden können, dieses
Konzert mit mir zu gestalten. Die Orgelbearbeitungen von Reger machen den
Wolf nicht leichter verständlich, denn auch Reger ist nicht gerade ein
zugänglicher Komponist.
Singen
Sie die Schmelli-Lieder in Gedanken an Ihr Elternhaus?
Nein, eher in Erinnerung an die Kreuzchorzeit. Zwischen der Chorstücken
gab es immer die Schemelli-Gesänge, und es galt als Auszeichnung, wenn
man diese als Solist vortragen durfte. Unser Lieblingslied war damals das
von uns so genannte Kirchensteuerlied: "Es kostet viel, ein Christ zu
sein".
Schwerpunkt
"Johannespassion". Wie kam es dazu?
Harmut Haenchen wollte zunächst, dass ich die "h-Moll Messe"
dirigiere, um Bachs Dresden-Bezug noch einmal zu unterstreichen. Aber ich
konnte ihn davon überzeugen, dass die "Johannespassion" doch
die wirklungsvollere ist - vor allem durch die Fassung, in der wir sie aufführen
werden, sprich Evangelist ist gleich Dirigent. Durch diese Personalunion habe
ich einfach eine höhere Ausdruckmöglichkeit. Ich habe diese Form
1982 in Dresden mit der "Matthäuspassion" aus der Taufe gehoben,
und sie hat sich seitdem immer mehr bewährt. Der Evangelist ist ja so
etwas wie der Spiritus Rector des Ganzen, der von Tempo, Diktion, Aussage
und Klangfarbe her die Sache in der Hand hat. Wenn nun der Evangelist gleichzeitig
als Dirigent agiert, kann er seine Charakterisierung ohne Reibungsverluste
auf das ganze Ensemble übertragen. Mit dieser Version der Passion konzertiere
ich ja jetzt in der ganze Welt und ernte überall große Akzeptanz.
Vor allem in Amerika kommt es gut an, wenn der Dirigent hinten in der Mitte
steht und die Sache aus der Perspektive des Sängers leitet. Ich selbst
kann mir gar nicht mehr vorstellen, unter einem anderen Dirigenten den Evangelisten
zu singen, denn inzwischen haben sich bei mir musikalisch eindeutige Vorstellungen
ausgeprägt. Beispielsweise gebe ich das Tempo für einen Chor oder
Choral durch das Tempo der letzten Evangelisten-Worte an, wodurch die Übergänge
viel organischer gelingen.
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Es
ist schon ungewöhnlich, das Werk außerhalb seiner Bestimmung im
Kirchenjahr zu hören. Wie geht es Ihnen damit?
Damit habe ich mittlerweile keine Probleme mehr. Damals, als ich die “Matthäuspassion”,
ich glaube im Rahmen der Gesamtaufnahme der Passion durch VEB Deitsche Schallplatten,
schon außerhalb der Passion-Zeit aufführte, bekam ich mehrere erbitterte
Zuhörerbriefe, denen das einer Gotterlästerung gleich kam. Ich denke
aber, dass er sich bei der “Johannespassion” um ein Stück
Weltliteratur handelt, und es gibt viele Menschen, die die Passion als reines
Kunstwerk betrachten und nicht in erster Linie im Dienste einer religiösen
Aussage stehend. Vor zwei Jahren habe ich im Monat Juli elf Mal das “Weihnachtsoratorium”
in Tel-Aviv geleitet. Glauben Sie, dass das die Juden gestört hat? Sie
haben sich schlicht an der Musik erfreut. Ich finde, auch wir dürfen
da nicht so provinziell denken.
Würden
Sie sich als einen gläubigen Christen bezeichnen?
Aus meiner christlichen Tradition heraus: Ja. Wenn mich jemand fragen würde:
“Glauben Sie an Gott?”, würde ich antworten: “Ja, an
den Gott Bach!” Ich würde so weit gehen zu sagen: “Ich vergöttere
Bach”. Sein “Soli Deo Gloria" als Überschrift über
die “h-Moll-Messe” gesetzt, ist für mich verplichtend.
Wie
oft haben Sie die Passionen in Ihrem Leben aufgeführt?
Das kann ich nur schätzen. Sagen wir in 40 Jahren 10 Mal pro Jahr. Das
ergibt rund 400 Aufführungen sowohl der “Johannespassion”
als auch der “Matthäuspassion”. Da ich von mir selbst eingerichtetes
Orchestermaterial mitnehme, erspare ich mir viel Zeit, wenn ich mit einem
Orchester neu zusammenarbeite. Harmut Haenchen macht das übrigens auch,
der ist da sehr akribisch.
Haben
Sie Programmpunkte für die diesjährigen Festspiele neu erarbeitet
oder greifen Sie auf Ihr Repertoire zurück?
Letzteres. Ich werde überhaupt nicht mehr viel Neues machen. Irgenendwann
hat man glaube ich auch einmal verdient, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen.
Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass es mit zunehmendem Alter immer schwerer
wird, sich so etwas so zu erarbeiten, dass man es nicht nur im Halse, sondern
auch im Kopf hat. Ich mache jetzt immer wieder bei der Zusammenstellung von
Liederprogrammen die Erfahrung, dass Dinge, die ich in meinen Zwanzigern gelernt
habe, schnell aufrufbereit sind. Dagegen ist alles, was ich später gelernt
habe, viel schwerer zurückzuholen. Ich habe über 400 Lieder erarbeitet,
das ist dann irgendwann einmal genug. Es ist ja auch nicht so, dass etwas
so bleibt, wie es einmal war. Im Laufe meiner künstlerichen Entwickelung
habe ich die Lieder immer wieder vielleicht nicht neu erfunden, aber neu empfunden.
Mit der “Reife” kommt auch ein neues Erlebnis dessen, was man
vor Jahren mit ganz anderen Emotionen verknüpft hat. Ich habe mich lange
verweigert, die “Winterreise” zu singen. Erst in meinem fünfzigsten
Lebensjahr habe ich mich an diesen Zyklus gewagt, weil ich immer das Bedürfnis
hatte, dem, was in der “Winterreise” ausgedrückt wird, ein
bisschen näher zu kommen. Ich bin ein Mensch, der Depressionen nicht
kennt. Selbst diesem Wetter heute kann ich noch das Positive abgewinnen.
Woher
kommt dieser Optimismus?
Das weiß ich nicht, vielleicht angeboren. Mein Vater war auch ein Mensch
mit einer ganz positiven Grundhaltung. Sonst hätte er diese fünf
Jahre in der russischen Kriegsgefangenschaft auch nicht überlebt. Um
ihn herum starben reihenweise die Mitgefangenen, und er hat sich immer wieder
an der Musik hochgezogen. Er hatte einen Lagerkapelle gegründet, in der
auf selbstgebauten Instrumenten musiziert wurde. Etwas von diesem Lebensmut
muss ich wohl geerbt haben. Ich hatte auch viel Glück in meinem Leben.
1945, als Dresden völlig am Boden lag, trat ich in den Kreuzchor ein.
Von da an gab es eine kontinuierliche Aufwärtsbewegung. Es war nie leicht,
aber es ging immer vorwärts, und das hat meine Einstellung zum Leben
enorm geprägt – auch wenn es Einbrüche gab wie das Debakel,
das ich als 18-Järiger als Evangelist in der Kreuzkirche erlebte. Stellen
Sie sich vor, am Ende der Aufführung konnte ich nur noch flüstern!
Damals zweifelte ich an meinem Wunsch, überhaupt Sänger werden zu
wollen, aber ich unternahm zwei wichtige Schritte: Ich entschied mich für
eine ordentliche Gesangsausbildung an der Hochschule in Dresden und ich nahm
dabei gleich das Kapellmeisterstudium mit.
Haben
sich beim Dirigenten Schreier auch Vorlieben für bestimmte Komponisten
herausgebildet?
Ich denke, dass mein Gebiet als Dirigent zwischen Bach, Haydn und Mozart
liegt. Das trifft auch für die Oper zu. Zu Wagner beispielsweise verspüre
ich überhaupt kein dirigentisches Verlangen. Ich liebe mehr das kammermusikalische
Differenzieren.
Warum
dirigieren Sie ohne Tackstock?
Ich brauche nichts zum Festhalten. Spaß beiseite. Diese Angewohnheit
kommt vom Chordirigieren her. Manche Orchester haben Probleme damit, sie finden
den Tackstock exakter. Ich habe damit aber noch nie dirigiert. Dafür
kann ich den Musikern und Sängern im Zweifelsfall alles vorsingen.
Herr
Schreier, dass Sie in diesem Jahr 68 Jahre alt werden ist kein Geheimnis.
Ihr Terminkalender ist aber so voll wie eh und je. Wie schaffen Sie das kräftemäßig?
(lacht) Ich weiß nicht, ich trinke jeden Abend ein gutes Glas Weißwein,
am liebsten den Grüner Veltiner aus der Wachau! Aber es ist schon so,
dass das Reisen immer anstrengender wird. Im Januar war ich jeweils für
mehrere Tage in New York, Madrid, London und Florenz. Was das bedeutet, können
Sie sich vorstellen. Jetzt freue ich mich, wenn ich mich ein paar Tage mit
Heckenschneiden und Holzhacken beschäftigen kann. Zu Hause fühle
ich mich eben am wohlsten.
Haben
Sie Wünsche für die Zukunft?
Künstlerisch nein, ich habe alles gemacht, was ich machen wollte. Wenn
Sie mich privat fragen: gesund bleiben!
Dresden-Loschwitz,
März 2003.
Henriette Sehnsdorf.
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