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Jazz
Letzte Prüfung

Irgendwann bin ich kein junger Prinz mehr
Mehr als ein gehacktes Salatblatt
Musik "für die Insel"
Dirigieren
Innige Beziehung zur "Schöpfung"
So perfekt bin ich nicht
"Wer Mozart singen kann, wird auch Wagner singen können"

 

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Dresdner Neuesten Nachrichten 13.12.2001
Innige Beziehung zur "Schöpfung"

Peter Schreier dirigiert in der Semperoper erstmals Ballettaufführungen

Peter Schreier in Dresden

Am Sonntag kommt an der Sächsischen Staatsoper Dresden in der Choreographie von Uwe Scholz "Die Schöpfung" von Joseph Haydn zur Premiere. Damit übernimmt das Ballett Dresden ein wichtiges Werk des bekannten Choreographen, das er 1985 mit dem Zürcher Ballett herausbrachte und vor einem Jahrzehnt zum Auftakt seiner Ära als Ballettchef der Leipziger Oper in einer Neufassung auch an diesem Hause inszenierte. Die musikalische Leitung der vorerst fünf Aufführungen mit dem Ballett Dresden in der Semperoper - weitere sind für 2003 vorgesehen - liegt in den Händen von Peter Schreier. Als Dirigent so außerordentlich erfolgreich wie als Sänger dirigiert er damit erstmals auch Ballettaufführungen. Gabriele Gorgas sprach mit ihm über dieses Novum in seinem bewegten künstlerischen Leben

Frage: Kam dieses Angebot für Sie überraschend?
Peter Schreier: Da ein vorgesehenes anderes Ballett von Uwe Scholz nicht zu realisieren war, wurde ich gefragt, ob ich "Die Schöpfung" übernehmen könnte. Wenn man solch ein Angebot mit der Dresdner Staatskapelle und dem Staatsopernchor bekommt, dann ist das schon eine reizvolle Aufgabe. Dennoch habe ich sie nicht ganz unbesehen angenommen. Und mir zunächst die Aufzeichnung einer Leipziger Vorstellung von 1998 angeschaut. Um sicher zu sein, dass ich diese Inszenierung auch vertreten kann. Es gibt ja gewisse Einschränkungen für mich; ich kann in einer Ballettaufführung nicht so musizieren, wie ich das im Konzertsaal tun würde, muss gewisse Tempi für die schon vorhandene Choreographie einfach annehmen. Da lässt sich kaum noch etwas ändern. Einige Kompromisse gibt es natürlich, aber diese werden von Uwe Scholz akzeptiert. Man ist musikalisch nicht ganz so frei wie in einem Konzert. Das ist schon ein gewisses Korsett. Als ich die Aufnahme sah, war ich von der Ästhetik, der Leistung der Tänzer sehr beeindruckt. Sicherlich wäre es der Idealfall gewesen, ich hätte ein Band mit meinen musikalischen Vorstellungen machen können und Uwe Scholz hätte dazu choreographiert. Aber nun ist es anders gekommen, und da muss man sich auch anpassen können.

Haben Sie eine besondere Bindung zu Haydns "Schöpfung"?
Oh ja. Ich habe sie seit meinen jungen Jahren oft gesungen, unter den verschiedensten Dirigenten, angefangen mit Karajan, dann Kempe, Bernstein, Böhm... Die Tenoraufgabe ist sehr, sehr schön, und ich fühle eine innige Beziehung zu diesem Werk. Ich habe es auch schon einige Male dirigiert, darunter in Wien, Salzburg, vor fünf Jahren auch mit der Staatskapelle hier in Dresden.

Weckt ihr erstes Dirigat einer Ballettaufführung die Lust auf weitere Aufgaben dieser Art?
Da wollen wir doch erstmal abwarten. Ich sehe das gar nicht so als etwas völlig anderes. Natürlich muss es Absprachen geben und musikalische Übereinstimmung. Zumindest bemühe ich mich, den Tempovorstellungen des Choreographen nachzukommen. Und erfreue mich sehr an der Musikalität einiger Tänzer. Außerdem käme bei solchen Dirigaten eh nur in Frage, was zu meinem Repertoire gehört, Bach oder Mozart beispielsweise. Doch es ist nicht so, dass ich nun unbedingt weiter Ballett dirigieren muss.

Waren Sie auch schon als Sänger in eine Ballettaufführung einbezogen?
Nicht unmittelbar in die Vorstellung, aber ich habe in der Aufzeichnung der Matthäuspassion für die Hamburger Inszenierung von John Neumeier gesungen. Ich sollte damals live auftreten, doch ich wehrte mich dagegen. Für die letzte Vorstellung in Hamburg hat mich Neumeier umgestimmt, und ich war hingerissen, schaute von der Kirchenempore so fasziniert zu, dass ich fast das Singen vergaß. Mein Argument, was soll die Stimme, wenn keiner hinhört, alle nur auf die szenische Aktion achten, musste ich korrigieren. Andererseits bestätigte es sich bei einer Aufführung in Salzburg auf dem Domplatz. Da kam die Matthäuspassion irgendwo von weit hinten herübergeweht. Alles schwatzte und flanierte. Und ich war froh, dass es nur eine Bandaufzeichnung war.

Was sind Ihre nächsten Pläne?
Es gibt noch einige Konzerte und Aufführungen in Berlin, Hamburg und Dresden, bevor ich im Januar für vier Wochen nach Los Angeles gehe und die musikalische Leitung einer Inszenierung von Achim Freyer zur h-Moll-Messe übernehme. Placido Domingo hat mich dazu eingeladen. Im März werde ich an der Helsinki Oper eine szenische Aufführung der Johannespassion dirigieren.


Sächsische Zeitung 12.05.2001
So perfekt bin ich nicht

Peter Schreier in Dresden, 5/2001

Lust auf Pensionärsruhe? Projekte an unscheinbaren oder akustisch ungünstigen Orten? Warum hat das Interesse am Lied so abgenommen?
Über András Schiff. Und, ist Peter Schreier wirklich so diszipliniert und ausgeglichen?
Text >>


Jazz
Gibt es noch etwas, bei dem Peter Schreier 30 Zentimeter abhebt?

Jazz. Gerade sagte Masur in New York zu mir, du kannst heute Abend in ein Jazz-Konzert gehen, der Wynton Marsalis spielt mit seiner Big Band. Es war umwerfend!
Peter Schreier in einem interview mit Neues Deutschland, 10./11.06.2000.



Berliner Morgenpost 07.06.2000
Letzte Prüfung
«Irgendwann geht die Motivation verloren»: Der Tenor Peter Schreier singt morgen zum letzten Mal den Tamino an der Staatsoper - Als Sänger verabschiedet er sich endgültig aus der Opernwelt, als Dirigent bleibt er erhalten.

Auf dem Gendarmenmarkt wird gerade lautstark geprobt: Wagners 'Meistersinger', dritter Aufzug. Mit dem Open-air-Projekt hat Peter Schreier nichts zu tun. Aber er habe auf dem Weg in seine Wohnung mitgesungen, erzählt der berühmte Tenor. Er ist gut drauf. Trotz einer stressigen Woche. Gerade hat er eine Liedermatinee an der Staatsoper Unter den Linden gegeben. Am Sonnabend dirigiert er dort Mozarts «Zauberflöte». Zuvor, am Donnerstag, singt er zum letzten Mal den Tamino. Peter Schreier, der im Juli 65 Jahre alt wird, zieht sich offiziell von der Opernbühne zurück.

- Herr Schreier, Sänger kündigen gerne ihren Rückzug von der Bühne an. Manche sogar gleich mehrfach.
Peter Schreier: Ja, ja. Ich kenne da auch eine Sängerin, die mindestens zehnmal mit der «Winterreise» ihr Ausscheiden angekündigt hat. Aber man wird geradezu in solche Ankündigungen gedrängt. Ich hätte das jetzt alles gar nicht so theatralisch gemacht. Ich hatte nur gesagt, die letzte Vorstellung muss irgendwann im Juni stattfinden, denn am 31. Juli beende ich mein Vertragsverhältnis mit der Staatsoper. Und das nehme ich als Anlass, gleich ganz mit der Oper aufzuhören. Also auch nirgend wo anders mehr zu singen. Ich hatte nicht angekündigt, gar nicht mehr zu singen. In der Matinee am Sonntag taten die Leute, als wäre es mein letztes Mal. Jedenfalls ließ der Applaus darauf schließen. Aber da haben sie sich zu früh gefreut.

- Es ist jetzt also das letzte Mal Oper?
Schreier: Definitiv. Ich habe 41 Jahre lang Oper gesungen. Irgendwann ist der Schlusspunkt erreicht. Man will kein junger Prinz mehr auf der Bühne sein. Und irgendwo muss man sich im zunehmenden Alter auch einschränken. Außerdem habe ich viele Liederabende und Dirigate zugesagt, bin mindestens für die nächsten zwei Jahre ausgelastet. Insofern fällt es mir nicht schwer, jetzt mit der Oper Schluss zu machen.

- Sie haben auch immer gesagt, dass Sie die Oper nicht so gerne machen?
Schreier: Ja. Aber es sollte nicht so klingen, als hätte ich es nie gerne gemacht. Es ist nur so, dass die Oper bei mir an der dritten Stelle lag. Erst nach Konzert und Liederabend. Johann Sebastian Bach liegt mir einfach mehr am Herzen. Ich habe in meiner Laufbahn die Oper schon sehr ernst genommen. Aber wenn man den «Barbier von Sevilla» 150 Mal und noch mehr gesungen hat, dann geht die Motivation verloren. Merkwürdigerweise war es bei Mozart nicht so. Der Mozart ist musikalisch doch eine andere Dimension.

- Tamino und seine Prüfungen? Wie ist eigentlich das Gefühl, wenn man jenseits der 60 den jungen Prinzen singt?
Schreier: Das hängt davon ab, welche Sänger man um sich hat. Wenn man eine 25jährige Pamina hat, dann denkt man schon daran, dass sie eigentlich mein Enkelkind sein könnte. Vor zwei Jahren sang ich hier einen Tamino. Meine Frau saß im ersten Rang neben einer Mutter mit ihrem Kind. Das vielleicht siebenjährige Kind fragte zwischendurch seine Mami, ob der Tamino so alt sein müsse? Natürlich nicht. Es gibt genügend junge Sänger. Und das Publikum ist stärker vom Medium Fernsehen geprägt. Heute wird zuerst nach Typ und Alter besetzt. Das muss man akzeptieren.

Peter Schreier in seiner Berliner Wohnung / in his Berlin flat, 6/2000.

- Vom Fenster Ihrer Berliner Wohnung aus können Sie direkt aufs Schauspielhaus schauen. Inwieweit waren Sie, der dem Kuratorium bis zur Wende vorstand, eigentlich am Wiederaufbau des Konzerthauses beteiligt?
Schreier: In den Wiederaufbau war ich nicht involviert. Gut. Kurz vor der Eröffnung 1984 haben wir mit dem Architekten ein paar Durchgänge gemacht. Oder haben über die Akustik gesprochen. Aber meine Beteiligung ist ganz anders zustande gekommen. Erich Honecker wollte unbedingt, dass dieses neue Haus von einem prominenten Künstler geleitet wird. Ich habe damals abgelehnt, weil ich dann mit dem Singen hätte aufhören müssen. Daraufhin haben sie mich ziemlich bearbeitet. Jemand empfahl mir dann, ein Kuratorium zu gründen. Als Präsident war ich letztlich nur eine Repräsentationsfigur.

- Kultur in der DDR: Inmitten der sozialistischen Planwirtschaft gab es seltsamerweise auch kapitalistische Inseln. So konnte sich etwa Stardirigent Kurt Masur mit seinem Leipziger Gewandhausorchester quer durch die Welt
verkaufen . . .
Schreier: Das Prinzip Angebot und Nachfrage hat immer schon in der künstlerischen Arbeit funktioniert. Auch im Sozialismus. Man hat sich nach besten Möglichkeiten verkauft. Wer gefragt war, konnte auch eine gute Gage aushandeln. Und andere Konditionen.

- Sie hatten auch einen Platz auf der Insel?
Schreier: Ich gehörte schon zu denen, die ihre Forderungen stellen konnten.

- Hauptsächlich waren Sie in Österreich . . .
Schreier: Ach, ich war in der ganzen Welt. In Amerika, in Italien, Spanien, England. In Japan. Ich war Mitglied der Staatsoper und Ehrenmitglied des Musikvereins in Wien. Das sind schon die Gipfel der künstlerischen Anerkennung.

- Dann kam die Wende?
Schreier: Für mich hat sich damit praktisch nichts geändert. Ich habe meine Verpflichtungen weiterhin gehabt. Am Tag des Mauerfalls, von dem ich gar nicht soviel mitbekommen habe, habe ich in Berlin-Schöneweide eine wichtige Plattenaufnahme gemacht. Für Philips.

Es hatte sich so gar nichts verändert?
Schreier: Vielleicht doch. Das Verhältnis zu meinen Freunden ist freier geworden. Wenn man als Künstler reisen konnte, hatte man natürlich viele Eindrücke. Zuhause wollte man davon aber nicht zu viel erzählen. Weil man nicht prahlen wollte.

- Die Staatsoper Unter den Linden, an der Sie seit 1963 singen, ist Ihr Stammhaus. Welche ist die schönste und welche die schrecklichste Erinnerung?
Schreier: Ich hatte viele schöne Erinnerungen. Beispielsweise erinnere ich mich an «Cosi fan tutte» im Apollo-Saal gerne. Das schrecklichste Erlebnis fand auch im Apollo-Saal statt. Ich war stockheiser. Aber Intendant Hans Pischner bat mich, wenigstens sprechend aufzutreten. Natürlich versuchte ich zu singen. Drückte drauf. Hinterher musste ich drei Wochen pausieren.

- Hat der Künstler Peter Schreier noch unerfüllte Träume?
Schreier: Ich habe keine. Aber ich möchte einigermaßen gesund bleiben. Ich habe immerhin ein stressiges Leben geführt. Ich war einer von denen, die immer zuviel gemacht haben. 40 Jahre haben mich ganz schön geschlaucht.

 



Die Welt 08.06.2000
Irgendwann bin ich kein junger Prinz mehr

Der Tenor Peter Schreier feitert heute in der Staatsoper seinen Bühnenabschied

Peter Schreier hat nie in einem Fussballstadion gesungen. Weil er mit Bach, Mozart oder Schubert "da nicht weit gekommen wäre". Und weil seine Weltkarriere begann, als die Klassik noch nicht von Eventmanagern und Image-Profilern verscherbelt wurde. Der 64-jährige Tenor ist ein Ausnahmekünstler, der mit seinen feinnervigen, intelligenten Interpretationen vor allem des Mozart- und Liedrepertoires Maßstäbe setzte. Seiner Grenzen war sich Schreier dabei immer bewusst: Er blieb bei lyrischen Partien, mied Rollen des schwereren Fachs - "sonst könnte ich jetzt nicht mehr so singen". Als Tamino in der "Zauberflöte" verabschiedet er sich heute Abend an der Staatsoper Unter den Linden von der Opernbühne. Mit Peter Schreier sprach Jochen Breiholz.

DIE WELT: Erfüllt Sie Ihr Abschied mit Traurigkeit?
Peter Schreier: Nein, überhaupt nicht. Ich freu' mich drauf. Es ist doch ganz natürlich. Wenn ich auf der Bühne einen jungen Prinzen spiele, wirkt das irgendwann nicht mehr glaubwürdig, sondern komisch. Schließlich bekommt man jeden Tag im Fernsehen vorgesetzt, wie Typen in bestimmtem Alter auszusehen haben. Außerdem werde ich weiterhin Liederabende geben und dirigieren. Eigentlich bin ich ein ziemlich fauler Mensch. Weil aber andere mich ständig pushen, komme ich nicht in den Genuss der Faulheit. Ich sehne mich nach mehr Ruhe.

DIE WELT: Könnten Sie sich vorstellen, Gesang zu unterrichten?
Schreier: Nicht wirklich. Von den Meisterklassen, die ich ab und zu gebe, bin ich eher enttäuscht. Ich habe das Gefühl, dass diejenigen, die wirklich etwas von mir lernen könnten und die gesangstechnischen Voraussetzungen dazu besitzen, nicht kommen - weil die sich nichts mehr sagen lassen wollen. Die haben heute alle ein Image zu verteidigen.

DIE WELT: In den letzten Jahren sind Sie verstärkt als Dirigent aufgetreten. Ein Ersatz für den Gesang?
Schreier: Nein, etwas völlig anderes: der Wille, die Gesamtheit des Musizierens im Zusammenklang mit den Musikern zu beeinflussen.

DIE WELT: Verstehen Sie Dirigenten besser, seit Sie selbst auf dem Podium stehen?
Schreier: Ich stand eigentlich meistens auf der Seite der Dirigenten, weil ich meine, dass viele Sänger dazu neigen, sich gesanglich zu viele Freiheiten zu nehmen - auf Kosten der musikalischen Genauigkeit. Diesen Individualismus der Sänger, den man auch Schlamperei nennen könnte, lehne ich ab...

DIE WELT: Neben Bach und Mozart haben Sie regelmäßig Wagner gesungen - David in den "Meistersingern", Loge im "Rheingold" ....
Schreier: Und das ist interessanterweise gar nicht so weit von Bach entfernt. Karajan sagte mir nach einer Matthäus-Passion, ich müsse Loge singen. Als ich's dann in Salzburg gemacht habe, hat das Publikum getobt. Und ich hab' mir gedacht, was ich all die Jahre mit Mozart falsch gemacht habe - dass ich da nie solch' einen Applaus bekommen habe. Aber Wagner ist eben spektakulärer.

DIE WELT: Sie waren - neben Theo Adam - der international berühmteste Künstler der DDR. Die Mauer gab es für Sie nicht. Was hat Ihnen die Wende bedeutet?
Schreier: Künstlerisch gar nichts. Aber privat. Ich habe mich für alle die Freunde, Kollegen und Bekannten gefreut, die jetzt reisen konnten. Freiheit war schließlich an beruflichen Erfolg gebunden. Jedesmal, wenn ich aus den USA oder aus Italien kam, durfte ich nicht sagen, wie schön es dort war, ums nicht noch schwerer zu machen.

DIE WELT: Gibt es einen unerfüllten Traum?
Schreier: Nie in Londons Covent Garden aufgetreten zu sein. Und nie den Aschenbach in Brittens "Tod in Venedig" gesungen zu haben. Sonst nichts.




Peter Schreier: Staatsoper Berlin, 6/2000



Berliner Morgenpost 11.06.2000
Mehr als ein gehacktes Salatblatt
Dankbarer Esser und bewunderungswürdiger Evangelist: Erinnerungen an den Tenor Peter Schreier. Von Klaus Geitel.

Das Leben spielt nachweislich mit uns Fußball. Man ahnt nichts Böses, und plötzlich ist es um einen geschehen. Ich wachte eines Morgens auf, ich war gerade 50 geworden und wusste, ich müsste sofort beginnen, Blumen zu lieben, sonst wäre es dafür ein für allemal zu spät.
Dann wurde ich mit einem Schlage kochgeil. Schlanker kann man das leider gar nicht bezeichnen. Ich lag auf dem Sofa und studierte Kochbücher, die ich in großen Mengen anschaffte. Das Beste bis heute ist, auch wenn Alfred Biolek weint, das Rezeptbuch des Koch-Wettbewerbs, den die Wochenzeitung Die Zeit einst veranstaltet hat. Ich kochte Zeile für Zeile alle diese Mundwässerer nach. Ich kochte für Gäste, vorzüglich für psychisch oder physisch zwangsläufig Unbehauste: die entzückend herzliche, natürliche Milva, die lustige Agnes Baltsa, die gefährliche Eliette de Karajan - und unter anderen für Peter Schreier. Ich hoffe nur, dass er jetzt, wo er von der Bühne Abschied genommen hat, gelegentlich wieder die Zeit findet, bei mir zu essen. Natürlich ist es albern, für Damen wie Milva oder Agnes Baltsa zu kochen. Sie essen sowieso nur ein gehacktes Salatblatt, wenn es nicht zu groß oder zu fett ausfällt. Peter Schreier dagegen war, was jeder weiß, nicht nur ein großer Sänger; er war auch ein dankbarer Esser. Zu allererst lernte ich ihn natürlich als Sänger bewundern, und diese Bewunderung baute sich über die Jahrzehnte hin auf, bis in die jüngste Zeit, da er mit einer Expressivität sondergleichen den Evangelisten in Bachs Matthäus-Passion sang, buchstäblich als sei er dabei gewesen, damals, in Jerusalem.

In Schreiers Konzerte zu gehen, war so risikolos wie der allsonnabendliche Gang zum Lotto, dort die sechs Richtigen zu ertippen. Gewiss - beim Lotto tippte man mitunter daneben, bei Schreier nie. Ich entsinne mich dankbar der Wahnsinnsreise zur Eröffnung der Semperoper in Dresden im eiskalten Februar 1985, in der, klimatisch durchaus angemessen, Peter Schreier zum ersten Mal in seinem Leben Schuberts «Winterreise» sang. Am Klavier: Swiatoslaw Richter.
Das Konzert begann erst spät am Abend. Zuvor hatte man ausdauernd eine Ballett-Uraufführung absitzen müssen. Ich durchsaß sie geduldig, um meines Freundes Udo Zimmermann großartige Komposition zu hören. Aber ganz schön anstrengend war es auch. Danach nun noch die «Winterreise» mir aufzuladen? Ich beschloss, die Ohren wenigstens ein bisschen in diese «Winterreise» hineinzuspitzen. Ich blieb kleben. Ich war gefangen. Gott sei Dank hat die Schallplatte diesen großen Abend für Zeit und Ewigkeit festgehalten.

Für Schreier war es bei allem Weltruhm oft kompliziert. Nie konnte er mit der ganzen Familie auf Gastspieltour in den Westen reisen. Immer musste jemand als Geisel zurückbleiben. Als nach Jahrzehnten endlich alle vereint ein Ausreisevisum erhielten, kehrte prompt Jung-Schreier nicht mehr mit den Eltern nach Hause zurück. Dann fiel die Mauer. Im Salzburger Großen Festspielhaus bei der Trauerfeier für Karajan, auf der ich kurz sprechen sollte, zupfte mich plötzlich Peter Schreier am Ärmel. Ich solle um Gottes Willen nicht glauben, was zu lesen gestanden hätte: Man habe ihm als «Westgewinnler» daheim die Autoreifen durchgeschnitten, die Wagenfenster eingeschlagen. Alles erstunken und erlogen. Der Stunk ist verweht, die Lügen dazu. Peter Schreier sieht sich in Ost und West zu Recht für seine Lebensleistung aufs herzlichste bedankt und gefeiert. Er lebe hoch!


Peter Ruzicka (Herausgeber/editor):
Musik "für die Insel" - was Prominente mit in die Abgeschiedenheit nehmen

Peter Schreier: (........) Sicher käme für mich nur Bachs Mätthäus-Passion in Frage. Da ich aber als voreingenommener Evangelisten-Interpret begreiflicherweise ungern dazu Stellung nehme, habe ich ein Werk der Kammermusik ausgewählt. Franz Schuberts C-Dur-Quintett D 956 op. posth. 163 in einer 1952 eingespielten Aufnahme mit Isaac Stern, Pablo Casals und Paul Tortelier als nahmhafteste Protagonisten. Ein Quintett, in dem Schubert genial die Geheimnisse des Jenseits verkündet. Keine Aufnahme anderer Musiker klingt eindringlicher, spricht aus dem verborgensten Herzen dieser fünf Streicher. Für mich wird so deutlich Schuberts Übergang ins Unbekannte, Zukünftige, wie bei allen "letzten Werken" von ihm. (.......)
Atlantis - Schott, Band 8364, 1997

Journal der Bayerischen Staatsoper 1989/'90-10
Dirigieren
(..............) Wird ihm nun das Dirigieren die physische Lust am Singern ersetzen? Gesund scheint es ja zu sein, die meisten Dirigenten werden alt und bleiben fit. Derlei Frivolitäten begegnet Schreier nun doch mit seinen eigentlichen Motiven.
Schreier: Was mir wirklich interessiert, ist die Arbeit am musikalischen Ausdruck, und ich möchte endlich mal die Musik, die ich unter so vielen Dirigenten gesungen habe, nach eigenen Vorstellungen realisieren. Die Zeiten sind ja leider vorbei, wo ein Fritz Busch ein Jahr lang mit Erna Berger die Gilda studiert hat. Heute arbeiten Dirigenten kaum noch mit den Sängern am musikalischen Ausdruck sondern engagieren, wer abliefert, was gewünscht wird. Selten feilt jemand am musikalischen Ausdruck, während die Regie mit grossem Einsatz um szenische Lösungen bemüht. Ich bewundere junge Sänger, die szenisch alles mitmachen, und ich glaube nicht, dass ich in ihrem Alter dazu so bereit gewesen wäre; aber musikalisch werden sie nicht in gleicher Weise gefordert.

.......... Die Aufführungspraxis historischer Opern ist nicht selten Gegenstand missionarischen Eifers, dem Schreier mit der eklektischen Distanz des Praktikers gegenübersteht. Ihm ist ein Punkt wichtig, der auch Harnoncourt am Herzen liegt und vorher schon Cavalli, Monteverdi, Bach, Telemann und manchen anderen: die Musik als Klangrede. "Es wurde immer wieder, besonders im musikalischen Barock von etwa 1600 bis in die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, gepredigt, dass Musik ein Sprache in Tönen sei, dass es darin um Dialog, um dramatische Auseinandersetzung gehe." Dieser Satz stammt von Harnoncourt, aber könnte genausogut von Schreier sein.

Schreier: In den Proben geht es darum, möglichst viel Durchsichtigkeit und Plastizität zu erreichen. Die Sänger sollen die Musik, ihre Rhetorik sprechen lassen. Ein Sänger muss den Ausdruck den eine Figur verlangt nicht nur gestisch sondern in erster Linie stimmlich herstellen können. Dazu muss er alles einsetzen was ihm zur Verfügung steht: Dynamik, Phrasierung, Artikulation, Stimmfarbe usw. Man darf eine Wendung wie "la morte" oder "qual furore" nicht einfach schön und rund singen, sondern muss ihr den nötigen stimmlichen Ausdruck verleihen. Die Sänger werden heute in erster Linie angehalten Stimme zu zeigen und haben kaum einen Nerv dafür wo man Akzente setzt oder Phrase leicht nimmt. Nur so kann aber Spannung beim Zuhörer entstehen. Ich möchte ein wache, lebendige Interpretation, nicht schöne, gleichförmige und auf die Dauer langweilige Töne. Sonst plage ich mich mit dem Orchester ganz umsonst. Aber das ist sehr schwer für Sänger die gewohnt sind Töne zu produzieren. Töne, Töne, und mich anschauen wie das Kaninchen die Schlange wenn ich sie um stimmlichen Ausdruck bitte. Statt die Figur singend darzustellen, weichen sie auf Gesten und Gänge aus - und da sind sie einfach einfallsreich. Nicht selten aber geht der stimmliche Ausdruck in eine andere Richting als die szenische Regie. Ich weiss, dass den Stimmfetischisten der reine Wohllaut genügt, aber ich kann nun einmal mit Gesang nichts anfangen wenn er mir nichts mitteilt.

Eigentlich stehen Sie mit ihrem Ideal einen natürlichen Phrasierung, die den Duktus der Alltagssprache in den Gesang hineinnehmt, den Theoretikern der barocken Oper sehr nahe.
Schreier: Ja sicherlich; aber so natürlich waren Starsänger wie der Ettore oder die Bernasconi wohl auch wieder nicht wenn man die Koloraturen ansieht die uns die herausgeber der Neuen Mozart-Ausgabe anbieten.

Wielleicht waren die Verzierungen doch nicht so unnatürlich wenn man sie mit den Komplimenten vergleicht die Mozart in seinen Briefen an die Familie gedrechselt hat - die uns heute auch nicht im Traum einfallen würden. Aber wir sind schon mitten in einer Diskussion über historische Aufführungspraxis - wie ist hier Ihre Position?
Schreier: Ich bin natürlich geprägt von meiner konservativen Erziehung in Dresden, dem glatten Bach-Verständnis des 19. Jahrhunderts und sein "Rühr-mich-nicht-an"-Effekten, über die ich längst hinausgewachsen bin. Ich halte die Auseinandersetzung um historische Instrumenten für hilfreich, soweit sie uns Hinweise für die Interpretation gibt, zur Klangfarbe, Phrasierung, Artikulation etc. Aber warum sollen sich Instrumenten nicht weiterentwickeln? Ich finde eine moderne Oboe viel klangschöner als den engen, näselnden Klang der barocken Holzbläser. Ich wünsche mir auch kein Beethovenkonzert auf dem Hammerklavier. Harnoncourts Arbeit hat mich sehr beeindruck und sicher auch beeinflusst. Er ist kompromisslos, ein Fanatiker, aber auch er hat den Reiz moderner Instrumente entdeckt, und als ich mit ihm in Wien den Lucio Silla gesungen habe, da hat er losgelegt, wie entfesselt. Das Schöne an unserer Kunst ist doch, dass jede persönliche Aussage ihre Berechtigung hat.



OPER heute
, Ein Almanach der Musikbühne.
Henschel Verlag, Berlin DDR 1984
"Wer Mozart singen kann, wird auch Wagner singen können"
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